Willkommen in der Welt von Glitterschnitter: Ein großer, wilder Roman über Liebe, Freundschaft, Verrat, Kunst und Wahn in einer seltsamen Stadt in einer seltsamen Zeit.
Die Lage ist prekär: Charlie, Ferdi und Raimund wollen mit Glitterschnitter den Weg zum Ruhm beschreiten, aber es braucht mehr als eine Bohrmaschine, ein Schlagzeug und einen Synthie, um auf die Wall City Noise zu kommen. Wiemer will, dass H. R. ein Bild malt, aber der will lieber eine Ikea-Musterwohnung in seinem Zimmer aufbauen. Frank und Chrissie wollen die alte Trinkerstube Café Einfall zur kuchenbefeuerten Milchkaffeehölle umgestalten, aber Erwin will lieber einen temporären Schwangerentreff etablieren. Chrissie will, dass Kerstin endlich zurück nach Stuttgart geht, aber die muss erst noch Chrissies neuen Schrank an der Wand befestigen. Die Frage, ob Klaus zwei verschiedene Platzwunden oder zweimal dieselbe Platzwunde zugefügt wurde, ist noch nicht abschließend geklärt, aber bei den Berufsösterreichern der ArschArt-Galerie werden bereits schöne Traditionen aus der Zeit der 1. Ottakringer Shakespeare-Kampfsportgesellschaft wiederbelebt.
Besprechung vom 09.09.2021
Szenen aus der Kreuzberger Antike
Dein Leben wird gelingen, du darfst bloß nicht darin stören: Sven Regener erzählt in "Glitterschnitter" weiter aus der Welt von Herrn Lehmann. Das erinnert an ein absurdes Bühnenstück über Menschen in der Warteschleife.
Das Großartige an den Romanen von Sven Regener ist ihr Sinn fürs Wesentliche. Milchschaum und Bohrmaschinen zum Beispiel. Die werden bei den existenziellen Themen, über die sich Menschen wochenlang den Kopf zerbrechen können, häufig vergessen.
In Regeners jüngstem Roman, "Glitterschnitter", ist viel von Milchschaum und Bohrmaschinen die Rede. Und auch von Kunst: Aktionskunst, Kneipenkunst, der Kunst, den Österreicher in sich zum Klingen zu bringen, der Kunst, ein Leben zu leben, sowie von Tonkunst, die mit Bohrmaschinen-Beteiligung gut, aber ohne eventuell besser durch den Lautsprecher kommt.
Wobei freilich auch das Milchschäumen eine Kunst ist - vom Wortschäumen gar nicht zu reden, das manche Protagonisten wie die Mitglieder der Ottakringer Shakespeare-Kampfsportgesellschaft ähnlich perfekt beherrschen wie der Autor (nein, kein Geblubber: ausgeklügeltes Präzisionsschäumen, ein Bläschen zu viel würde alles verderben).
Die Protagonisten des Buches muss man nach "Wiener Straße", dem vierten Band der Frank-Lehmann-Reihe, an den es anknüpft und dabei wieder multiperspektivisch erzählt, nicht weiter vorstellen. Aber "Glitterschnitter" könnte mit seinen Momentaufnahmen aus der Kreuzberger Antike auch für sich stehen. Es würde sogar als absurdes Bühnenstück über Menschen in der Warteschleife funktionieren - mit einem Café, Erwin Kächeles "Café Einfall", als Mittelpunkt.
Über dem "Einfall" wohnen Karl Schmidt, genannt Charlie, Erwins Nichte Chrissie, Frank Lehmann und Heinz Rüdiger, genannt H.R., Ledigt. Neben dem Café befindet sich die "Intimfrisur", ein ehemaliger Friseursalon, über den es irgendwann zu Recht heißen wird: "Das ist doch kein Name für ein Kaffeehaus."
Und in der Bühnenwohnung würde H.R. dann wohl die Ikea-Landschaft aufbauen, die zu Romanbeginn noch als Musterwohnung im Möbelhaus steht. Der blitzgescheite H.R. erkennt in ihr eine "Studie in heiler Welt", die "von einem gelingenden Leben erzählt, in dem an alles gedacht und für alles gesorgt war". Er hat den "Wahnsinn" fotografiert und gekauft und versucht ihn nun als Kunstprojekt (das letzte mit Kettensäge aus dem Baumarkt hieß "Mein Freund der Baum") wieder zusammenzubringen. "Und alles sagt: Dein Leben wird gelingen, du darfst bloß nicht darin stören. Ich nenne das: Nach der Neutronenbombe!"
Ob er es damit wirklich zur anstehenden "Wall City" bringt? Sein "Manager" Wiemer hat da seine Zweifel, weil er über seine Kontakte zum Kulturbürokraten Sigi nur ein Ölgemälde vermitteln könnte: "Schreibst halt einen Beipackzettel dazu, das ist doch da die Idee bei der ganzen Konzeptkunstscheiße." Aber Zweifel gehören zum Leben. Der Schlagzeuger Raimund, der Keyboarder Ferdi und Charlie an der Bohrmaschine, die als Band namens Glitterschnitter an der "Wall City Noise" teilnehmen wollen, haben sie vermutlich auch.
Der kurze Handlungsbogen, den Regener in "Glitterschnitter" bis zu einem gemeinsamen Auftritt von H.R. und der besagten Band spannt, ist nicht origineller als die Handlung eines Familienfilms aus den Achtzigerjahren. Aber das ist bei dieser Kettenkarussellfahrt von Roman, die im Jahr 1980 spielt, ja dann irgendwie auch schon wieder treffend gewählt. Sitzt man einmal drin, will man nicht raus. Von Regeners urkomischen, weil haarscharf am Irrwitz der Wirklichkeit entlanggeschriebenen Dialogen im Sound der Zeit und der Melancholie, die alles durchweht, wenn er auf Durchzug stellt, kommt man schwer los.
Eine seiner Figuren, P. Immel, mag zuweilen über "Selbstanzeige wegen Lebenszeitdiebstahls" nachdenken. Dass ihn aber Leser wegen dergleichen anzeigen würden: diese Sorge muss Sven Regener, der mit "Wiener Straße" auf die Longlist des Deutschen Buchpreises kam, nicht haben.
Man fragt sich bloß wie bei Marvel: Was kommt als Nächstes? Ein Sprung über den Start der Buchreihe, der im Wende-Herbst 1989 spielte, und "Magical Mystery", das in die Techno-Welt der Neunziger reiste, hinweg ins durchsanierte, durchgentrifizierte, von Lockdown-Monaten durchgeschüttelte Berlin der Gegenwart? MATTHIAS HANNEMANN.
Sven Regener: "Glitterschnitter". Roman.
Verlag Galiani Berlin, Berlin 2021. 480 S., geb.
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