Als die Puppen ein Land eroberten
Ein zwölfjähriges Mädchen entdeckt nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste im Foyer des Theaters eine kleine Holztür, öffnet sie und gerät wie Alice im Wunderland in eine Märchenwelt, in der viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer und viele andere. Vor allem aber trifft es dort Hatü, die Frau, die einst mit ihrem Vater all diese Marionettenfiguren geschnitzt und gebaut hatte und die eine große Geschichte zu erzählen hat: die Geschichte dieses einmaligen Theaters und der Familie, die es erfunden, gegründet und berühmt gemacht hat. Es ist die Geschichte eines deutschen Kultur-Mythos, die weit zurückreicht in die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Theaters, im Lazarett einen Puppenschnitzer kennenlernt . . .
Valery Tscheplanowa studierte Tanz und Puppenspiel, bevor sie zur Schauspielerei fand. Zusammen mit Christian Brückner wird sie die Augsburger Puppenkiste so zauberhaft wie fesselnd zum Leben erwecken.
Besprechung vom 10.09.2020
Die Unschuld hängt an dünnen Fäden
Was träumt Alice in Augsburg? Thomas Hettche hat den Roman der Augsburger Puppenkiste geschrieben.
Jeder kennt die Augsburger Puppenkiste, aber für jeden von uns beginnt ihre Geschichte anders. Denn all die Familiengeschichten, zu denen die Puppenkiste mit ihren Figuren seit Generationen gehört, unterscheiden sich voneinander. Dass die Augsburger Puppenkiste selbst auch eine Familie bildet, also auch selbst eine Familiengeschichte haben muss, ist wohl nur den wenigsten je in den Sinn gekommen. Thomas Hettches neuer Roman erzählt diese Geschichte. Sie handelt nicht von Urmel, dem Gestiefelten Kater, Jim Knopf oder dem kleinen König Kalle Wirsch, obwohl all diese Gestalten Rollen im Roman übernommen haben. Auf der Bühne sind die Marionetten die unbestrittenen Hauptfiguren, aber im Roman haben sie nur Nebenrollen. Hettche erzählt von dem, was sich am anderen, dem unsichtbaren Ende der Fäden befindet. "Herzfaden" erzählt von denen, die führen und geführt werden.
Die hölzernen Türen, die sich zu Beginn jeder Vorstellung öffnen, waren ursprünglich die Seitenteile einer Transportkiste der Deutschen Reichsbahn. Die Puppenkiste war ein Provisorium, aus der Not geboren. Ihr Vorläufer, der sogenannte Puppenschrein, verbrannte nach einem Bombenangriff der Alliierten in den Trümmern des Stadttheaters. Deutschlands bekannteste Marionettenbühne, begründet von Walter Oehmichen, dem früheren Augsburger Oberspielleiter, gilt als liebenswertes Symbol der frühen Bundesrepublik, aber wie vieles in den Jahren des Aufbruchs und Neubeginns nach 1945 hat auch das Marionettentheater seinen Wurzelgrund im "Dritten Reich". Nein, es geht im Roman nicht darum, eine dunkle Stelle im Leben Oehmichens zu finden oder eine Verstrickung der Puppenkiste mit den Nationalsozialisten zu enthüllen. "Jud Süß" stand hier nie auf dem Spielplan. So einfach hat es sich Hettche nicht gemacht.
Der Roman setzt nicht vor einer Vorstellung ein, sondern danach. Was gezeigt wurde, erfahren wir nicht. Ein Mädchen reißt sich von der Hand seines Vaters los, öffnet neugierig eine unscheinbare Holztür in einem Winkel des Theaterfoyers, und schon befindet sich das Kind in einer anderen Welt. Denn auf dem Dachboden des Gebäudes sind alle Marionetten beisammen. Hier, in ewiger Dunkelheit, sind sie lebendig, können umherlaufen, sprechen oder singen wie die Prinzessin Li Si. Aber auch ihre Schöpferin ist hier, Hannelore Oehmichen, genannt Hatü. Sie hat die meisten Marionetten geschnitzt - insgesamt sollen es etwa sechstausend gewesen sein -, viele von ihnen während der Vorstellungen geführt und die Leitung der Puppenbühne 1972 von ihrem Vater übernommen. Die reale Hatü ist 2003 gestorben, hier lebt sie weiter, inmitten ihrer Geschöpfe, und beinahe ist es, als wäre sie selbst eines von ihnen. Denn auf dem Dachboden sind alle gleich klein. Auch das Mädchen ist geschrumpft. Hettche stattet das Kind nur mit dem Allernötigsten aus, um es in unserer Gegenwart zu verorten: einem Elternpaar, das sich getrennt hat, und einem iPhone. Einen Namen gibt er der Zwölfjährigen nicht. Nennen wir sie Alice in Augsburg.
Was Alice erlebt, ist im Kern märchenhaft, also überschaubar und schlicht im Handlungsablauf, aber vieldeutig in seinen Bezügen und Deutungsmöglichkeiten. Es gibt einen bösen Kasperl, den alle fürchten, sogar Hatü. Er muss bezwungen, aber auch erlöst werden. Was auf dem verzauberten Dachboden geschieht, ist im Roman in roter Farbe gesetzt, in blauer Schrift erscheint die Geschichte, die Hatü ihrer Besucherin erzählt. Das ist der eigentliche "Roman der Augsburger Puppenkiste", den der Untertitel verheißt. Er setzt mit dem abrupten Urlaubsende im Sommer 1939 ein, als der Krieg ausbricht und Walter Oehmichen einberufen wird. Im Folgenden erzählt Hatü die Geschichte ihrer Familie, der eigenen Kindheit und Jugend und der ersten Jahre der Augsburger Puppenkiste. Auf dieser Ebene endet der Roman mit der Produktion von "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer" für den Hessischen Rundfunk, die als erste deutsche Serie Fernsehgeschichte geschrieben hat. Die Rahmenhandlung, die weit weniger Raum einnimmt, wird mit der Rückkehr des Mädchens in die reale Welt beschlossen.
Hettche ist kein Lewis Carroll, aber "Herzfaden" ist wie "Alice im Wunderland" ein Buch für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen. Geschickt hält der Roman die Balance zwischen Märchenton, phantastischen Elementen im Stil von Michael Endes "Unendlicher Geschichte", Coming-of-Age-Roman und Zeithistorischem. Nicht nur die Familie Oehmichen und ihre engsten Mitarbeiter, auch zahlreiche Nebenfiguren haben reale Vorbilder. Personen und Ereignisse, die in diesem Roman vorkommen, so heißt es in einer Nachbemerkung, habe es wirklich gegeben, und zugleich seien sie erfunden. Man darf davon ausgehen, dass Hettche gründlich recherchiert hat. Spannend wird die Frage, wie es um das Verhältnis von historischen Fakten und Fiktion steht, wenn Hettche die zentralen Fragen des Romans verhandelt.
Dass der Vater eine Affäre hatte, Hatü kurz in den Maler Michel verschossen war, bevor sie dann doch ihre Jugendliebe Hanns Marschall heiratete, während sie die Entfremdung von ihrer besten Freundin Vroni nicht aufhalten konnte, mag so oder auch ganz anders gewesen sein. Das ist mehr oder weniger egal. Oder, wie Hettche Oehmichen sagen lässt: "Darauf kommt es nicht an . . . Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten." Dreißig Seiten später stellt Oehmichen einigen jungen Leuten - der künftigen "Familie" der Puppenbühne - sein Konzept eines transportablen Theaters vor. Die Reisepuppenbühne in einem ehemaligen Transportbehältnis der Reichsbahn: "Das ist unser Theater. Diese Kiste. Sie ist alles, was uns geblieben ist. Sie steht in den Ruinen. In sie sperren wir alles ein, was war. Verwandelt wird es wieder herauskommen."
Ist die Augsburger Puppenkiste also im Kern ein ideologisches Projekt gewesen? Ein Instrument der Volkserziehung, gegründet aus der Überzeugung, die deutsche Jugend, verdorben durch HJ und BDM, bedürfe einer moralischen Grundreinigung? Und ist der Puppenspieler einer, der aufgrund seiner Verfehlungen besser im Hintergrund bleibt, unsichtbar, aber die Fäden ziehend, weil er die Bühne denen überlassen will, die beides besitzen: Anmut und Unschuld?
Hettche ist viel zu klug, um sich da festzulegen. Ja, für Oehmichen sind Marionetten die besseren Menschen. Und nein, man kann die Hexe im Märchen von Hänsel und Gretel nicht in den Ofen stoßen, ohne an die deportierten Juden und ihre millionenfache Ermordung in den Lagern zu denken. Hatüs böser Kasperl, der auf dem Dachboden die anderen Marionetten in Angst und Schrecken versetzt, ist eine allegorische Figur, in der ebenso viel Verdrängtes steckt wie in der ganzen Augsburger Puppenkiste. Seine Puppen seien nicht eitel, lässt Hettche Oehmichen einmal sagen. Das ist, nur um eine Nuance abgewandelt, Kleists Bemerkung, dass einer der Vorteile der Marionette darin liege, "dass sie sich niemals zierte". Um in den Stand der Unschuld zurückzufallen, müssten wir wohl wieder vom Baum der Erkenntnis essen, sagt, ein wenig zerstreut, Kleists Erzähler. Hettches Roman erzählt uns vom Traum eines ganzen Landes vom allmählichen Verfertigen der Unschuld beim Spiel der Marionetten. War das kein unschuldiger Traum?
HUBERT SPIEGEL
Thomas Hettche: "Herzfaden". Roman der Augsburger Puppenkiste.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 288 S., geb.
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