Besprechung vom 29.08.2024
Die dunklen Seiten der Schweiz
Zum Achtzigsten: Lukas Hartmanns neuer Roman
Nicht umsonst gehört er zu den populärsten und meistgelesenen Schriftstellern der Schweiz: Wenn Lukas Hartmann etwas beherrscht, dann die produktive Aktivierung all seiner familiären Erfahrungen und beruflichen Kompetenzen in der Literatur. Die Spuren der Biographie sind in vielen seiner Romane und Kinderbücher auszumachen, und das nicht erst im neuesten Roman "Martha und die Ihren", in dem er sich tief über die eigene Familiengeschichte beugt und herausfinden will, wie ihn seine Herkunft aus ursprünglich bescheidenen, kleinbäuerlichen Verhältnissen geprägt hat. Wenn er schreibt, ist Lukas Hartmann immer auch Lehrer, Jugendberater, Psychologe, Historiker, Radiojournalist, Hörspiel- und Dokumentarfilm-Drehbuchverfasser, aber auch nostalgischer Achtundsechziger. Vor allem aber ist er Kind einer Familie, in der man sich unter großen Opfern gesellschaftlich emporarbeitete und sich der Kollateralschäden des entbehrungsreichen Aufstiegskampfs auch auf spätere Generationen bewusst wird.
Im Buch verfolgt er halb dokumentarisch, halb fiktiv die Spuren seiner Großmutter Martha, die nach dem frühen Tod des Vaters als geschundenes Verdingkind in einer fremden Familie als "Kinderarbeiterin" platziert wurde, aber sich mit eisernem Willen, fleißig und intelligent, der Fesseln ihrer Herkunft entledigt. Sie bringt es aus eigener Kraft zu bescheidenem Wohlstand und Unabhängigkeit - um den Preis von Härte und Gefühlskälte gegenüber Mann und Kindern. Lukas Hartmann hatte sich bisher aus Skrupel nicht an diese tabuisierte Familiengeschichte gewagt, obwohl Verdingkinder noch in der Schweizer Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts keine Seltenheit waren. Um Distanz und sich gleichzeitig mehr Freiheit zum authentischen Erzählen zu verschaffen, tritt Hartmann selbst im Roman als Bastian Anderegg auf, der die Spuren der Erfolge seiner dominanten Großmutter nachzeichnet. Schon der Name Lukas Hartmann ist indes ein Pseudonym (für Hans-Rudolf Lehmann).
Dieser Autor steht in der Tradition jener älteren sozialdemokratischen, von der Achtundsechziger-Bewegung inspirierten Schweizer Autoren, die sich am eigenen Land rieben, in ihren Werken Ausbruchsphantasien aus der Enge entwickelten, sich über die provinziellen und verlogenen Verhältnisse aufregten, aber letztlich weder in ihren Werken noch im Leben der Schweiz entkommen wollten: Peter Bichsel, Jörg Steiner, Adolf Muschg, Niklaus Meienberg, Matthias Diggelmann oder Kurt Marti. Die Verflechtung von politischer Haltung und Literatur war für sie eine Selbstverständlichkeit.
Auch dem Erzählen der Familiengeschichte in "Martha und die Ihren" ist ein klares gesellschaftspolitisches, sozialkritisches Programm unterlegt: die Stärkung des Sozialstaates und die Aufarbeitung der Vergangenheit. Lukas Hartmann geht es unter anderem darum, an ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte zu erinnern. Seine Frau, die ehemalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga, hatte sich 2013 im Namen des Landes bei den ehemaligen Verdingkindern und Opfern fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen entschuldigt und den Betroffenen juristische, historische und finanzielle Aufarbeitung des Verdrängten versprochen. Der neue Roman ihres Mannes ist insofern auch ein Stück sozialdemokratischer "Programm-Musik"; literarische Eigenständigkeit kann man ihm allerdings nicht absprechen und noch weniger, dass seine Geschichte exemplarisch vorführt, wie damals Waisen physisch und psychisch misshandelt wurden. Hartmann nimmt dazu drei Generationen ins Visier: die Vorkriegsgeneration seiner Großmutter, die Kriegsgeneration seiner Eltern Toni und Lena und seine eigene Generation, die der Achtundsechziger, die gesellschaftskritisch agierte und zugleich von Wohlstand überschwemmt wurde und sich oft vom "Nützlichen" weg zum "Künstlerischen" hin bewegte.
Das Verdingkind Martha überlebt, weil es über emotionale Intelligenz verfügt und instinktiv weiß, wer ihm helfen würde: Ein Lehrer entdeckt nicht nur, dass sie besser und schneller als die anderen Kinder lernt. Er begreift - und da winkt das Vorbild von Jeremias Gotthelf aus den Kulissen - die Lage seines Schützlings, spricht mit den Pflegeeltern und hilft Martha, in einer großen Strickerei bei Bern eine Stelle zu finden, die einen guten Lohn zahlt. Von da an beginnt ihr steiler sozialer Aufstieg, den Hartmann in rasantem Tempo erzählt.
Diese zügige Heirats-, Sterbe- und Erfolgsgeschichte, schnörkellos und protokollarisch vorgebracht, verrät allerdings auch eine entscheidende Schwäche: Der Roman gerät oft zu sehr zur Reportage, zu angestrengt zum Zeitdokument und damit an manchen Stellen zu plakativ. Der absehbare Bestsellererfolg ist wie schon in Hartmanns früheren Büchern einem brennenden historischen Thema geschuldet, aber auch mit einer einfachen, oberflächlichen, glatten, leicht konsumierbaren Sprache erkauft. Sie schließt Differenzierungen und Uneindeutigkeiten aus. Es ist die Sprache des gewieften ehemaligen Radiojournalisten, der gewohnt war, beim Schreiben von Hörspielen, Drehbüchern und Dokumentarreportagen der mündlichen Rezeption entgegenzukommen. Literarisches Erzählen verlangt aber nach Vielschichtigkeit und Schattierungen. Martha aber gerät etwas stereotyp, was sie antreibt, bleibt im Dunkeln, von Ambivalenzen keine Spur; es wird gelebt und gestorben, aber warum eine Frau dreimal nacheinander einen Mann überlebt, erfährt man nicht. Man begreift, dass sie mit sich und den anderen hart geworden ist, aber warum sie mit dem unbarmherzig erarbeiteten Wohlstand auch zu einer Täterin wurde, kann man nur ahnen. Man versteht, dass Martha im Roman als frühere Vertreterin der Frauenemanzipation in der Schweiz fungiert, aber den Preis, den sie und ihre Kinder dafür zahlen, wird mehr behauptet als erzählt.
"Maria und die Ihren", den Hartmann, der heute achtzig Jahre alt wird, nach einem im Oktober 2022 erlittenen Schlaganfall beendete, verrät den Wunsch, in einem "Opus magnum" noch einmal die Verwerfungslinien der Sozialgeschichte der Schweiz im zwanzigsten Jahrhundert kritisch zu beleuchten: Übergang vom Bauernstaat in eine ökonomisch florierende Wohlstandsgesellschaft, wachsendes Selbstbewusstsein der Frauen, veränderte weibliche Identitäten, das im radikalen Wandel begriffene traditionelle Gesellschaftsgefüge. Ein ambitioniertes, aufklärerisches Ziel, literarisch allerdings nicht ganz eingelöst. Und doch zwingt dieser "Schweiz-Roman" zur Konfrontation mit den dunklen Seiten dieses Landes. PIA REINACHER
Lukas Hartmann: "Martha und die Ihren". Roman.
Diogenes Verlag,
Zürich 2024.
304 S., geb.
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