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Besprechung vom 12.07.2019
Der Sinn für das Mögliche
Mit Rücksicht auf die Bedürfnisse: Amartya Sen über Gleichheit
Amartya Sen, 1998 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet, gehört zu den wenigen Ökonomen, die immer wieder über die Fachgrenzen hinausblicken. Der vorliegene Essay, im Rahmen der Tanner Lectures 1979 entstanden, legt davon Zeugnis ab. Er legt den Grundstein für Sens Überlegungen zum Problembereich der Gleichheit, vor allem für seine Theorie der gleichen Grundfähigkeiten (capabilities).
Wie der Titel "Gleichheit? Welche Gleichheit?" anzeigt, fragt Sen nicht direkt, was Gleichheit ist oder warum Gleichheit für demokratische Gesellschaften von besonderer Relevanz ist. Vielmehr möchte er zuerst wissen, welche Gleichheit wir eigentlich meinen, wenn wir von Gleichheit reden. Meinen wir Chancengleichheit, Einkommensgleichheit, Rechtsgleichheit oder eine Form moralischer Gleichheit? Gleichheit, so die zentrale Pointe Sens, hat immer Hinsichten oder einen Fokus, die allgemeine Rede von Gleichheit ist eher vernebelnd und besagt wenig.
So ist es dann auch nicht überraschend, dass Sen selbst in dem Buch drei Theoriemodelle verhandelt, die in seinen Augen unterschiedliche Hinsichten der Gleichheit erfassen: utilitaristische Theorien, die den Nutzen, den eine Verteilung von Gütern für Individuen hat, in bestimmter Weise gleichmachen wollen; sogenannte welfaristische Theorien, die dem Utilitarismus sehr ähnlich sind und den Nutzen in den Mittelpunkt stellen, aber ohne jenes Element auskommen, dass viele utilitaristische Ansätze auszeichnet, nämlich die Forderung, den Nutzen der Einzelnen in einem Gesamtnutzen zu summieren; schließlich das Modell von John Rawls, der in seiner "Theorie der Gerechtigkeit" (1971) davon ausgeht, dass jeder in gleicher Weise bestimmte Grundgüter wichtig findet, etwa Freiheit, Einkommen oder gleichen Respekt.
Der Text ist keine leichte Lektüre, denn Sen erläutert seine oft ökonomische Begrifflichkeit gar nicht oder sehr knapp. Die Herausgeberin Ute Kruse-Ebeling erleichtert mit einem Nachwort die Lektüre, was zu begrüßen ist, aber wohl nicht alle Hürden überwinden helfen wird. Beißt man sich allerdings durch diese Schwierigkeiten durch, dann bietet das Buch einige substantielle Einsichten, die Sen in anderen Schriften weiter vertieft hat.
Zentral ist für ihn dabei die Annahme der Vielfalt der Menschen. Wir haben unterschiedliche Bedürfnisse, je nachdem, wo wir leben, wie wir leben, wie gesund oder alt wir sind, und natürlich auch, je nachdem, wie viel Einkommen uns zur Verfügung steht, denn oft passen wir unsere Bedürfnisse an ein gegebenes Einkommensniveau an. Die meisten Hinsichten der Gleichheit, die Sen in seinem Essay diskutiert, erfassen diese Vielfalt nicht und führen deshalb in seinen Augen zu einer, wie es einmal heißt, "blinden Ethik".
So könnte etwa eine gleiche Verteilung von Grundgütern ganz unterschiedliche Auswirkungen auf eine gesunde oder eine chronisch kranke Person haben. Die chronisch kranke Person wird offensichtlich mehr Güter brauchen, um zufrieden zu sein, als die gesunde Person, eine bloße Gleichverteilung würde diesen Umstand nicht erfassen. Wichtig sind also nicht nur Grundgüter an sich, wichtig ist, was sie bei einer Person bewirken, welche konkreten Effekte sie auf ein Leben haben. Die bloße Orientierung an Gütern oder am Nutzen kann diesen Aspekt nicht angemessen berücksichtigen, die Nutzenkategorie etwa ist viel zu breit gefasst und übergeht die Vielfalt der Fähigkeiten, die einer Person wichtig sind.
Der Mensch an sich hat viele Fähigkeiten, die aber nur zum Tragen kommen, wenn sie sich verwirklichen lassen. So können Menschen Häuser bauen, aber fehlt ihnen das Material zum Hausbau, dann können sie diese Fähigkeit nicht verwirklichen. Will ich andererseits gar nicht in einem Haus leben, dann kann ich die Mittel auch anders einsetzen, wichtig ist, dass ich die Möglichkeit habe, denn ohne sie wäre ich in einer wichtigen Hinsicht unfrei. So verbindet Sen in seinem Fähigkeiten-Ansatz die Einsicht in menschliche Vielfalt mit dem Freiheitsgedanken und entwirft ein Modell politischer Gerechtigkeit und Gleichheit, das in der Philosophie, aber auch in der Wirtschaftswissenschaft noch immer deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient.
MARTIN HARTMANN
Amartya Sen: "Gleichheit? Welche Gleichheit?".
Aus dem Englischen und herausgegeben von
Ute Kruse-Ebeling.
Reclam Verlag, Ditzingen 2019. 72 S., br.
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