Besprechung vom 17.04.2022
Ein Schatz, hundert Bände, tausend Figuren
Die japanische Reihe "One Piece" ist der erfolgreichste Manga der Welt. Was als kindliche Piratengeschichte begann, wurde zu einem epochalen literarischen Werk. Wo soll das alles enden? Und wann?
Er ist ein junger Mann von schmächtiger Statur, auf seinem Gesicht ein breites Grinsen, auf dem Kopf ein Strohhut mit rotem Band. Das ist Ruffy, Kapitän der Strohhut-Piratenbande, mit der er die Grand Line besegelt, eine legendäre Meeresroute, auf der sich die großen Freibeuter ihren Namen verdienen. Sie alle verfolgen das gleiche Ziel - das Ende dieser Strecke zu erreichen, an der das titelgebende "One Piece" auf sie wartet. Wer es findet, darf sich Piratenkönig nennen und erntet Reichtum, Macht und Ruhm. Doch muss man sich ebendiesen Schatz hart erkämpfen, denn die Strohhut-Piratenbande ist doch nur eine von vielen, die nach ihm suchen.
Wer bei diesem Plot an die Piratenfilme der Dreißiger- und Vierzigerjahre denkt, liegt goldrichtig. Doch auch wenn Hollywood eine große Inspiration für die erfolgreichste Manga-Reihe der Welt ist, schwingt sich dort kein Errol Flynn oder Jack Sparrow von einem Schiff zum anderen. "One Piece" beginnt als unschuldige, kindliche Geschichte. Sie dreht sich um den jungen Ruffy, eine naive Frohnatur, die durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist, Vertrauen in andere setzt und den Traum verfolgt, Piratenkönig zu werden. Nach und nach baut er sich eine Crew auf, bestehend aus einem Schwertkämpfer, einer Navigatorin, einem Koch und einem Rentier, das als Schiffsarzt fungiert. Je länger der Manga andauert, desto mehr Figuren stoßen hinzu. Gemeinsam erleben sie Abenteuer in einer Welt, in der Tiere sprechen können, Riesen existieren, Städte über den Wolken schweben und das Piratenleben verherrlicht wird.
Fünfhundert Millionen Exemplare sind bislang von "One Piece" verkauft worden. Damit ist es nicht nur mit weitem Abstand der erfolgreichste Manga, die Reihe ist auch eines der erfolgreichsten literarischen Medien überhaupt. Auch im Westen sind die japanischen Comics seit drei Jahrzehnten enorm beliebt, die Popularität der Serie ist enorm gewachsen. Seit Ende 2000 vertreibt der Verlag Carlsen die Piratenabenteuer im deutschsprachigen Raum - und hat seitdem 6,7 Millionen Bände verkauft. "'One Piece' ist seit mehr als zwei Jahrzehnten ein Bestseller-Garant", sagt Kai-Steffen Schwarz, der Programmleiter des Manga-Segments des Hamburger Verlags. "Anders als bei manch anderem Titel hat das Interesse an der Serie nie nachgelassen. 2021 war für die Serie zudem auch auf dem deutschsprachigen Markt ein Rekordjahr: Noch nie sind so viele Leserinnen und Leser neu in die Serie eingestiegen wie in den letzten zwölf Monaten."
Tatsächlich haben viele Manga-Reihen die Eigenschaft, dass sie zu lange dauern. Die Geschichten verwässern, werden zäh und undurchsichtig und erfüllen irgendwann nicht mehr die Erwartungen der Fans. Diese Gefahr droht auch bei "One Piece": Nach hundert Bänden und mehr als tausend Kapiteln ist die Geschichte so ausgedehnt und vielfältig, dass man leicht den Überblick verlieren kann.
Der Mangaka Eiichiro Oda, Erfinder, Zeichner und Autor dieses Universums, hat inzwischen knapp tausend Charaktere entworfen, die alle in einer Verbindung zueinander stehen. Das größte Geheimnis seiner Piratenwelt hat er allerdings noch immer nicht gelüftet - was das "One Piece" eigentlich ist, dem Ruffy und die anderen Piratenbanden nachjagen.
Dass es sich dabei um einen simplen Goldschatz handeln könnte, hat Oda schon mehrfach dementiert. In Rückblenden sieht man auch mal andere Piraten vor dem "One Piece" stehen, ohne dass man aber erkennen könnte, was sie sehen. Sie alle lachen und weinen und können es nicht glauben, was sie dort gefunden haben. Doch bis dieses Mysterium gelöst wird, muss sich das Lesepublikum noch gedulden. Oda lässt sich viel Zeit beim Entwickeln eines jeden Handlungsstrangs.
Eine ganze Generation ist inzwischen aufgewachsen mit dem Rätsel um das "One Piece". Und wie dieses millionenstarke Publikum, so sind auch die Charaktere des Mangas mit der Zeit gegangen und erwachsener geworden. Was als harmlose Abenteuergeschichte begann, politisierte sich nach und nach mit jedem neuen Band. Ruffys Strohhutbande geriet zwischen die Befreiungskriege von Revolutionsarmeen, lernte besetzte Königreiche kennen. Sie musste erkennen, welche Abhängigkeiten zwischen der Bevölkerung und der Weltregierung bestehen und dass die Marine kein Garant für Sicherheit auf den Weltmeeren ist, weil sie die Aufzeichnung der Menschheitsgeschichte bewusst unter Verschluss hält. Und all das scheint verbunden zu sein mit dem "One Piece", das alle wollen.
Das Geheimnis der erfolgreichsten Manga-Serie der Welt wird wohl auch in den nächsten Jahren noch nicht gelöst werden. Gleichzeitig bestätigt Oda aber immer wieder, dass sein Abenteuer tatsächlich auf ein Finale zusteuere. Es heißt, die Gesundheit des 47-jährigen Künstlers habe unter der Produktion der Reihe sehr zu leiden. Strikte Deadlines und eine kaum zu stillende Fankultur setzen ihm und seiner kleinen Crew an Assistenten seit Jahren stark zu. Dennoch ist ein Ende ihrer Fahrt nicht in Sicht.
MARTIN SENG
Die ersten hundert Bände von "One Piece" sind im Carlsen-Verlag erhältlich und kosten jeweils
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