Besprechung vom 24.11.2018
Verbrechen lohnt sich doch
Die berühmteste Kriminellenfigur deutscher Dichtung bekommt jetzt ihre erlesene, digital polierte Prunkgrabplatte: Johann Wolfgang von Goethes "Faust" in der ersten doppelmedialen historisch-kritischen Ausgabe.
Von Gerhard Stadelmaier
Der deutsche Dichter schüttelte den Kopf. Gesprächsweise, am 6. Mai 1827, zu Eckermann. Über die Deutschen. Es seien "übrigens wunderliche Leute". Woran man schon erkennen mag, dass ihm die Deutschen nur aus der Distanz erträglich erschienen. Er war ja auch ein weitgespannter Weltenbürger ("Amerika, du hast es besser", na, ja . . .). Die bornierten Deutschen hingegen machten sich "durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer, als billig". Und dann wird er ziemlich ungehalten: "Ei! so habt doch endlich einmal die Courage, Euch den Eindrücken hinzugeben, Euch ergötzen zu lassn, ja Euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre Alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre!"
Er wünschte sich - vergeblich, naturgemäß! - in dieser kapuzinerpredigtfrohen Passage nichts weniger als ein intelligibel naives Gegenüber. Dem er sogleich dessen neuesten Lesefehler unter die Rezeptionsnase reibt: "Da kommen sie und fragen: welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht? - Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, daß der Teufel die Wette verliert, und daß ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, Manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Szene im Besondern zu Grunde liege. Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und so höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im Faust zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!" Hätte der Alte die mageren Plumpest-Idee-Schnüre, bis hin zu Schnurren, geahnt, mit der das jüngere deutsche Theater teilweise seine kleinstentflammten "Faust"-Versuche zu umwickeln pflegt, er hätte noch ganz anders gepoltert.
Die wunderlichsten der wunderlichen gegenwärtigen Goethe-Deutschen wären wohl gerade im Dreieck Frankfurt-Würzburg-Weimar zu vermuten. Im Freien Deutschen Hochstift / Frankfurter Goethe-Haus hat man in Kooperation mit dem Goethe- und Schiller-Archiv (Klassik Stiftung Weimar) und dem Lehrstuhl für Computerphilologie (es gibt ja offenbar in unseren Uni-Sphären nichts mehr, was es nicht gibt!) und Neuere Deutsche Literaturgeschichte der Universität Würzburg eine historisch-kritische Edition des "Faust" (beider, oder, wie es hier heißt, "beyder" Teile) erarbeitet, die, so ihre leitenden Verfertiger Anne Bohnenkamp (Frankfurt), Silke Henke (Weimar) und Fotis Jannidis (Würzburg), "eine moderne Faksimile-Edition mit einem innovativen genetischen Apparat im digitalen Medium" darbiete. Und somit "der Faust-Forschung erstmals eine umfassende gesicherte Grundlage und der breiteren Öffentlichkeit Einblick in Goethes ,Werkstatt', in der eines der wichtigsten Werke der deutschen Literatur entstand", ermögliche. Die fixe Idee, der die Forscher hier folgen, ist also auch eine wiederum typisch deutsche: nämlich eine technische. Und deshalb auch kannibalistische. Bei der das Internet, auf das die Editoren so stolz sind, den Buchhandel beziehungsweise Verlag auffressen könnte, der den Editoren im Verein mit allerlei großzügigen Stiftungsgaben und Subventionen die Ausgabe erst ermöglicht.
Denn wer sich in diesen ohnehin notorisch printlesefaulen Zeiten scheuen sollte, für "Faust - Eine Tragödie. Konstituierter Text", also die Lesefassung der historisch-kritischen "Faust"-Edition, 49 Euro, und dazu noch für "Faust - Der Tragödie zweiter Teil. Gesamthandschrift. Faksimile und Transkription" 199 Euro (oder für beide zusammen 224 Euro) zu bezahlen - der kann das alles kostenlos im Internet haben unter faustedition.net. Und wer sich nicht wie Endesunterfertigter gerne seine Festplatte mit sogenannten "Cookies" vollschleimen lassen will und lieber selbst schaut, was er kocht, was ja andere gar nichts angeht, und sich also dem penetrant diktatorisch auf die Fausteditions-Internetseiten plazierten und nicht wegzuklickenden verdammten "Cookie"-Banner nicht zustimmend unterwerfen mag und um es herum oder über es hinweg sich den dementsprechend leicht verbarrikadierten Weg leise vor sich hin fluchend suchen muss, dem bieten sich wahrlich tausenderlei Möglichkeiten.
Klickt er auf "Archiv", hat er dort Zugriff auf die gesamte "Faust"-Überlieferung, die "Faust"-Handschriften (die für "Faust I" fast völlig verloren, für "Faust II" bis hin in kleinste Korrektur-Klebezettel komplett sind) und auf die zu Goethes Lebzeiten erschienenen Drucke (nur für den ganzen "Faust I", für "Faust II" allerdings nur Teile des ersten und der ganze dritte, der Helena-Akt). Klickt man auf "Genese", bekommt man die handschriftenübergreifende Entstehung des Gesamtwerks in verschiedenen Diagrammen visualisiert, so dass man zum Beispiel genau ersehen kann, bis zu welchem Punkt, sagen wir: am 6. Juni 1806 oder an jedem beliebigen anderen Tag der Produktionsprozess gediehen ist. Zudem bekommt man Hunderte von Briefstellen, Tagebucheinträge, Gesprächsnotizen und dergleichen mehr sozusagen am Kolumnenrand geboten, die den Fortgang und die Rezeption der "Faust"-Produktion im Spiegel aller möglichen prominenten Goethe-Zeitgenossen dokumentieren. Geht man dann schließlich zur Rubrik "Text", bekommt man die Lesefassung beider Teile des "Faust" geboten, welche die Herausgeber aus einer Vielzahl von sogenannten "Zeugen", also Druck- und Handschriftversionen "emendiert", das heißt: von Fehlern und vor allem von "autorfernen" Eingriffen (der Setzer, der Abschreiber, der Diktataufnehmer, der Verleger) gereinigt haben. Und über jede noch so klitzekleinste Entscheidung peinlich genau Rechenschaft ablegen. Zum Beispiel darüber, ob es in Vers 3945 heißt "Girren und Brechen der Äste / Der Stämme mächtiges Dröhnen" mit keinem Komma hinter "Äste" wie in den Druck- beziehungsweise Handschriftversionen A B Ba H1 C1 oder mit Ausrufezeichen wie in H14 oder C3. Wobei man sich hier für die Version ohne Satzzeichen entschieden hat.
Und in den Faksimile-Wiedergabe der Handschrift zu "Faust II", die für unsere Laptop-Schirme übrigens besser und höher auflöslicher hätte präpariert werden müssen, ist dem jeweiligen händischen Schriftzug in alter deutscher Schrift die Transkription in moderne Druckbuchstaben durchscheinend unterlegt. Aber spätestens nach der zwanzigsten dementsprechenden Klick-Bewegung fragt man sich dann doch: Und was bringt es? An Erkenntnis? An Ergötzen (s. Goethe)? Was hat man davon, wenn man sieht, dass Goethe mit Tinte seine Bleistiftkorrektur bekräftigt und im Vers 4830 "Doch keiner denkt es ging ihn an" zwischen "ihn" und "an" ein "irgend" einfügt? Oder wenn in Vers 4661 ein "Schlaaf" zu "Schlaf" korrigiert wird, aber eine "Schaale" nicht zur "Schale"? Werkstatt ist ja gut und schön - aber will man so genau wissen, welche kleine Schraube bei dem einen oder anderen Karosserie-Teil verwendet locker sitzt und welche nicht? Legt man nicht einfach Wert darauf, dass die ganze Karre fährt?
Man ist ja nun dauernd beim Durchblättern und Durchforschen dieser gewaltigen Unternehmung geneigt, sich vor der eminenten und höchst verdienstvollen historisch-kritischen Leistung der Editoren und ihrer vielen Mitarbeiter permanent zu verneigen und voller Ehrfurcht mit dem Kopf zu nicken, derart, dass einem vor lauter Kopfnicken der Kopf allmählich auf die Brust sinkt und man irgendwann sanft einnickt. Und irgendwann auch nimmt die Langeweile vor so viel philologischer Puzzle-Arbeit, wo jeder Strich von Goethes Bleistift (oder Tintenfeder) durch ein Komma oder Fragezeichen sorgfältigst dokumentiert wird, einfach überhand.
Und da uns gerade der verdammte "Cookie"-Banner doch allzu sehr ärgert, gehen wir rasch raus aus dem Internet und wenden uns lieber der Buchausgabe des "konstruierten Textes" zu und versuchen, ohne uns einen Leistenbruch zu heben oder eine Schulterprellung zuzuziehen, die beiden gefühlt tonnenschweren Prachtbände der "Faust II"-Handschrift (Faksimile und Transkription) vom Boden aufzuheben. Man fragt sich, den Verlag und die Editoren, wo in den heutigen bildungsbürgerlichen Wohnungen für derartige Maße (26,5 auf 41,5 cm!) und Gewichtsmassen noch Platz in den ohnehin übervollen Regalen sein soll? Also greifen wir sozusagen zur Erholung und Erbauung und Erfrischung zu den beiden äußerst handlichen und allein inhaltlich höchst gewichtigen Bänden (erschienen im Deutschen Klassiker Verlag), in denen der große Germanist Albrecht Schöne 1994 sämtliche "Faust"-Texte ediert hat. Und zwar so bündig und einsichtig und kritisch an den Quellen orientiert, dass seine Edition jede historisch-kritische zwar nicht an wissenschaftlicher Schnipselei, aber an Form, Intelligenz und Lesbarkeit weit übertrifft, auch und gerade weil Schöne noch nichts vom Internet wissen konnte. Dafür liefert er alle die "Wollust-Texte" (wie Wieland sie genannt hat), die Goethe aus Rücksicht auf die Prüderie seiner Zeit im Zuge selbstzensierender Voraussicht in den "Walpurgissack" verbannt hat. Wobei vornehmlich die Messe des Satans auf dem Blocksberg, das schwarze Gegenstück zum hellen "Prolog im Himmel" mitsamt allen teuflisch-hexenhaften "Schwänzen" und "Löchern" und Rammeleien der Welt verborgen blieb. Auch übrigens der "Schooß" Gretchens, der sich zu Faust "hin drängt", während man auch in der historisch-kritischen Ausgabe nur vom "Busen" des jungen Dings liest.
Und da Schöne auch den wunderbarsten Kommentarband zu "Faust" (1133 Seiten), der sich denken und mit Genuss und Gewinn durchschmarutzen lässt, gleich beigelegt hatte, liest man auf Seite 97 vom "Doppelgesicht eines Janushauptes", das jeder ältere literarische Text uns zeige. "Ein uns abgewendetes und ein uns zugekehrtes. Als alternd fremd gewordene Schrift ist er der Möglichkeit nach zugleich doch eine je gegenwärtige." Und er zitiert Goethe, der gegenüber Eckermann meinte, es "müßte schlimm sein, wenn nicht Jeder einmal in seinem Leben eine Epoche haben wollte, wo ihm der Werther käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben". Der Herausgeber, so Schöne, dürfe keinesfalls ein altes Werk um diese im Text angelegte Ambivalenz bringen. Durch radikale Modernisierung der veralteten Schreibweisen täusche er seine Leser über den historischen Charakter des Textes hinweg. "Bringt er hingegen, um wissenschaftlich zu dokumentieren, durch strikt an den Textzeugen gebundene Wiedergabe einer veralteten Schreibweise allein die Fremdheit zur Geltung (die doch keineswegs der ,originale' Zustand eines Textes ist, sondern allererst das Ergebnis des historischen Entfremdungsprozesses), dann unterdrückt oder verdeckt er mit einer solchen ,historisch-kritischen Ausgabe' die der Dichtung eingeschriebene Gegenwärtigkeitsintention."
Und genau das ist mit der vorliegenden Frankfurt-Weimar-Würzburger historisch-kritischen Ausgabe passiert. Wir lesen "Indeß ihr Complimente drechselt" oder "Nur thierischer als jedes Thier" zu sein, stolpern über "Juristerey und Medicin" und "studirt" und "Es zucken rothe Strahlen mir um das Haupt" und erleben in dieser Ausgabe der "Textologen der strengsten Observanz" (Schöne) die Qual der Herausgeber-Wahl zwischen "ein- für allemal" (A, D1) und "einvorallemal" (H5) und "ein- vor allemal" und ob es "wüßt'" oder "wüsst" (ohne Apostroph) heißt und sehen die "krystallne reine Schale" und baden in jeder Menge "sey" und "herbey" und müssen uns entscheiden zwischen "Schornstein" und "Schorstein". Und grämen uns, "Wenn thät ein armes Mägdlein fehlen".
Dabei tritt ein seltsamer Lese-Effekt ein: Die Figuren wenden sich von uns ab; sie schauen mit ihren uralten Rechtschreib- und Schriftmasken ins historisch Erledigte hinab. Goethes "Faust" ist ja insgesamt das Welt- und Daseins- und Tragödienspiel des Scheiterns des berühmtesten Kriminellen der deutschen Literatur, der mit Satans Hilfe, der er sich bewusst verschrieb, unter anderem in der Verführung Minderjähriger, in Gift- und Meuchelmord, Falschgeldproduktion, in zauberischer Vorspiegelung falscher Tatsachen (Fake News), in Bandenbildung, räuberischer Erpressung samt Brandstiftung mit Todesfolge exzellierte. Und der kinderlos stirbt in einem dreifachen Kindertotenstück: Gretchens Kind, Euphorion, Homunculus - lauter Verluste des Vaters Faust. Und glaubt, wenn er, blind geworden, die Spaten klirren hört, dass ein "freies Volk auf freiem Grund" sie tatkräftig bewegten, man ihm aber damit längst das Grab schaufelt. Aber am Ende spendiert ihm sein Autor eine erstklassige Himmelfahrt hinauf in die Seelenräume ihn begnadigender und beseligender und erlösender heiliger Frauen: "Das ewig Weibliche zieht uns hinan" meint genau dies. Nicht unser Zeit-, aber unser Monstrositätsgenosse. Diese Figur bekommt hier mit einer überaus verdienstvollen, aber doch ziemlich leblosen historisch-kritischen Ausgabe eine prunkvollst polierte Grabplatte verpasst. Die ihm Goethe noch erspart hatte.
Johann Wolfgang von Goethe: "Faust". Eine Tragödie. Konstituierter Text.
Bearbeitet von Gerrit Brüning und Dietmar Pravida. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 574 S., geb. im Schuber, 49,- [Euro].
Johann Wolfgang von Goethe: "Faust". Der Tragödie zweiter Teil. Gesamthandschrift. Faksimile und Transkription.
Bearbeitet von Gerrit Brüning, Katrin Henzel, Dietmar Pravida, Dietrich Renken, Thorsten Vitt und Moritz Wissenbach. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. Zwei Foliobände im Schuber: Faksimileband mit 384 S. und 26 faksimilierte Aufklebungen, geb., sowie Transkriptions- und Erläuterungsband mit 412 S., geb., beide zusammen 199,- [Euro].
Alle drei Bände zusammen
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