Gruseliges, als Weltliteratur hochstilisiertes Märchen, das dem Unsinn vergeblich Sinn zu entlocken versucht.
Der Zufall wollte es, dass mir vor nicht langer Zeit ein Uralt-Exemplar des als Klassiker hochgerühmten, von "The Guardian" 2007 in die Liste der 1000 Bücher, die jeder gelesen haben muss, aufgenommenen Werkes von Lewis Carroll, "Alice's Adventures in Wonderland" in die Hände fiel. Eine wohlmeinende Verwandte teilte in längst vergangenen Zeiten "The Guardian's" Meinung und pries das Werk in so übertrieben hohen Tönen an, dass mir das bereits in jungen Jahren suspekt war und ich stets nur halbherzige Versuche gemacht hatte, mich mit der Geschichte, die offensichtlich die halbe Welt in Entzücken versetzt, anzufreunden. Tatsächlich gelang es mir wohl auch, mich durchzuquälen, vielleicht auch habe ich kurz vor Schluss verwirrt und verängstigt aufgegeben, von Träumen geplagt, in denen mich die Cheshire-Katze drohend angrinste, die Herzogin mir auf den Leib rückte, der verrückte Hutmacher mir scheußliche Angst einflößte, getoppt nur von der unheimlichen Herzkönigin, die auch meinen Kopf abgeschlagen haben wollte.Nein, die Geschichte um das möglicherweise bekannteste Mädchen der Weltliteratur drang ganz und gar nicht zu mir durch, ich fand sie schon immer albtraumhaft bedrohlich, und so ist es mir bis vor kurzem auch gelungen, mich sämtlichen Wunderland-Adaptionen zu entziehen, die mutmaßlich bekannter sind als die Romanvorlage selbst, die, seien wir realistisch, nicht lesbar ist für das Zielalter von sieben Jahren.1865 wurde das Buch erstveröffentlicht und der Autor Lewis Carroll, der mit bürgerlichem Namen Charles Lutwidge Dodgson hieß und ein recht eigenartiger Zeitgenosse gewesen sein muss, ein Gewächs Oxfords, Mathematiktutor, Diakon und ein - so sagt man - begabter Photograph, soll darin bekannte Zeitgenossen karikiert und die britische Gesellschaft seiner Epoche sarkastisch persifliert haben. Mag wohl sein - doch welches Kind, damals genauso wenig wie heute, versteht das schon? Überhaupt - welches Kind versteht Sarkasmus? Wer versteht den ganzen Unsinn, den Dodgson/Carroll seine Protagonistin erleben lässt in einem im Eiltempo erfolgenden Gang durch das sogenannte Wunderland, in dem sich Wesen tummeln, die ungehobelt, schlecht gelaunt, frech und schikanös und in höchstem Maße surreal sind, die Unverständliches daherreden, das jeder Logik entbehrt?Vergeblich habe ich auch heute, als längst Erwachsene, nach einer Handlung gesucht - und nach einem Sinn hinter dem Unsinn, der vielfach sogar zu oft zitierten geflügelten Worten geworden ist. Sinn in der Sinnlosigkeit? Ich sah damals keinen, was sich auch heute nicht geändert hat. Carroll würde mit der Logik spielen, liest man in Kritiken und lobt dieses absurde Geplänkel, das angeblich Mathematiker und Kinder gleichermaßen faszinierend finden, über den grünen Klee. Und obendrein - diese unsympathische Mädchen, das entweder schrumpft oder unmäßig wächst, weil es ständig irgendwelche undefinierbaren Substanzen trinkt oder isst, mag ich heute genauso wenig wie einst!Seit damals auch hält sich das Gerücht, dass Carroll beim Schreiben seiner Alice-Abenteuer, wozu er während einer langen Bootsfahrt auf der Themse inspiriert wurde, auf der er den drei Töchtern eines Vorgesetzten Geschichten erzählte, halluzinogene Drogen genommen hat, was ihn im Übrigen auch bei der Popkultur populär machte. Das würde vieles erklären...Kurz und gut - ich kann wenig anfangen mit diesem zur Weltliteratur gehörenden Klassiker - wer eigentlich entscheidet darüber, ob ein Werk weltliteraturwürdig ist? - , der, wie man immer wieder lesen kann, mit seinen Figuren und seiner Metaphorik unverändert großen kulturellen Einfluss hat. Auf wen, bitte? Und worin macht sich dieser Einfluss denn bemerkbar? Eines der hervorragenden Werke des literarischen Nonsens? Mag sein, auch das - und wenn dem so ist, kann man Alice doch zumindestens denjenigen empfehlen, die einen ausgeprägten, einen geradezu überdimensionalen Sinn für den Unsinn haben!