Besprechung vom 03.04.2018
Gefangen im Gefäß
Die in jedem Krimi wichtige Frage nach der Identität wird in Tom Hillenbrands Thriller "Hologrammatica" zu einer ziemlich unübersichtlichen Angelegenheit.
Analog ist besser. So sehen das zumindest einige Leute, die von einem japanischen Dorf aus die digitale Welt im Auge behalten. Sie wohnen in Holzhütten, wühlen in Aktenordnern und machen Notizen auf Papier. Computer? Zu riskant. Handys? Nein, danke. Eingefasst wird dieser aus der Zeit gefallene Ort von Bergen, Feldern und Nadelbäumen - eine friedliche Kaufhauskunstidylle. Wir schreiben das Jahr 2088, befinden uns in Tom Hillenbrands Science-Fiction-Thriller "Hologrammatica" und erleben die Japan-Episode als erholsame Verschnaufpause.
Der Rest der Welt ist nämlich ungemütlich und gefährlich. Eine Seuche hat die Erdbevölkerung drastisch minimiert, Nationalstaaten gehören der Vergangenheit an, wegen des Klimawandels sind Städte wie Venedig und Miami abgesoffen, während andere aufgrund der Hitze unbewohnbar wurden. Migrationsströme fließen nicht länger nach Westeuropa, sondern in Richtung heiß ersehnter "Coolspots" wie Sibirien. Im Zuge der ausufernden Völkerwanderung verschwinden immer wieder Menschen, manche tauchen unter, andere werden aus dem Weg geräumt.
Auch Juliette Perrotte, eine Pariser Computerexpertin, wird vermisst. Der Mann, der sie aufspüren soll, Galahad Singh, ist unser Erzähler und Protagonist. Solche Namen muss man übrigens aushalten, in dieser Zukunft darf sich leider jeder nennen, wie er will, zum Beispiel Prétextat Feuerbacher, Chiba Sexgod oder 77C Faucheux. Singh jedenfalls arbeitet in London als Detektiv und nimmt ausschließlich Suchaufträge für Personen an.
Kein einfacher Job, denn mit Personen ist es in "Hologrammatica" so eine Sache: Vor etwa vierzig Jahren wurde nämlich erstmals ein menschliches Gehirn eingescannt und digital nachgebildet. Dieses sogenannte Cogit lässt sich in einen Klon hochladen, den man als Gefäß bezeichnet. Gefäße wiederum sind teuer, dafür aber nicht von normalen Menschen zu unterscheiden. Gleichwohl darf man seinen Stammkörper nur für maximal drei Wochen verlassen, andernfalls zerlegt sich die Datenstruktur des Cogits.
Forscher suchen jetzt nach Möglichkeiten dieses "Ein-Körper-Problem" zu überwinden, denn dann könnte man sich alle paar Jahre in ein neues Gefäß einspeisen und wäre unsterblich. Juliette Perrotte arbeitete an Verschlüsselungstechnologien für diesen Bereich. Ist sie deshalb verschwunden und sieht sie, falls sie noch lebt, überhaupt so aus wie sie selbst? Oder nutzt sie ein Gefäß? Singh muss zum Semiotiker werden, der jedes noch so kleine Zeichen registriert und interpretiert.
Sein Privatleben schreit ebenfalls nach Deutung. Er lernt eine Frau kennen, die ihr Cogit für ihn, der homosexuell ist, in einen Männerkörper hochlädt. Vielleicht steckte sie als Frau aber schon in einem Gefäß und ist tatsächlich ein Mann. "Ein Mädchen in einem Jungenkörper - oder ein Junge in einem Mädchenkörper. Ein Junge, der auf Jungs steht. Und auf Mädchen. Oder nur auf Jungs?" Die in jedem Krimi wichtige Frage nach der Identität, also der Übereinstimmung von Dingen sowie dem nicht veränderbaren Wesenskern eines Menschen, wird hier zur unüberschaubaren Angelegenheit.
Erfreulicherweise verschont uns der Autor mit naheliegenden philosophischen Exkursen, ein Kurzreferat zu Descartes muss reichen. Wichtiger sind die etwas zu pedantische Dekoration der erzählten Welt und der komplexe, jedoch überladene Plot. Einer seiner Aspekte ist die Krise des Unverfälschten in der Öffentlichkeit, denn jeder Fleck wird von holographischen Projektionen aufgehübscht. Ob ein Gesicht authentisch oder das Ergebnis von Photonenschminke ist, bleibt genauso ungewiss wie der Verfallszustand von Gebäuden und Straßen. Der Raum führt also in die Irre und ist mit Vorsicht zu genießen. Singh durchpflügt ihn trotzdem zu Land, zu Wasser, in der Luft, sogar im All. Und wo auch immer er eintrudelt, lauern bereits Gegner, die buchstäblich Hackfleisch aus ihm machen wollen.
Deutsche Science-Fiction-Romane wie Frank Schätzings "Der Schwarm" oder Wolfgang Jeschkes "Das Cusanus-Spiel" waren unter anderem deswegen so erfolgreich, weil sie mit Genres und Vorläufern jonglieren. Auch Tom Hillenbrand, dem kulinarische, dystopische und historische Krimis gleichermaßen liegen, beherrscht das Handwerk von Sample und Pastiche. "Hologrammatica" fasziniert als raffiniertes, vor eigenen und fremden Ideen sprühendes Cyberpunk-Kaleidoskop. Ohne William Gibson und den einmal verfremdet erwähnten Philip K. Dick wäre der Roman nicht denkbar; Fans der Serie "Lost" dürften sich über einen Techniker freuen, der in einem Inselbunker regelmäßig einen Schalter umlegt, damit es zu keiner Explosion kommt. Die ist auch gar nicht nötig, holographische Vexierspielchen erzeugen genug Spannung und illustrieren, dass für die Dramaturgie des Buchs fraglos gilt: Digital ist besser.
KAI SPANKE
Tom Hillenbrand:
"Hologrammatica".
Thriller.
Kiepenheuer & Witsch
Verlag, Köln 2018.
560 S., br.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.