Besprechung vom 25.11.2024
Entwurf einer Wirtschafts-NATO Ideen für den Freihandel in einer unfreieren Welt
Der Titel des Buches der Außenhandelsökonomen Gabriel Felbermayr und Martin Braml ist eine verkaufsfördernde Provokation: "Der Freihandel hat fertig", steht da in zartem Himmelblau auf rotem Grund. Aber je weiter man sich durch die neun Kapitel auf 254 Textseiten liest, desto klarer wird: Die meinen das ernst. Ihre Analyse ist ernüchternd und womöglich verstörend für Leser aus Ländern, deren Wohlergehen am Außenhandel hängt, wie Deutschland oder Österreich.
Doch Felbermayr, Direktor am Wiener Wirtschaftsforschungsinstitut, und Braml, Dozent an der Uni Passau und Berater des Berliner Bundesfinanzministeriums, sind zu sehr von den Vorzügen des Freihandels durchdrungen, als dass sie das Konzept aufgeben wollten. Erst recht in Zeiten, in denen der Kriegstreiber Wladimir Putin mit Wirtschaftssanktionen von seinem völkerrechtswidrigen Treiben abgebracht werden soll oder in denen der neue US-Präsident Donald Trump die Wirtschaft seines Landes mit Einfuhrzöllen "fixen" will und damit lediglich die Wohlfahrt auch seiner Landsleute beschneiden wird.
Das erfahrene Autorenduo legt in dem flott geschriebenen, mit Anekdoten und witzigen (oder witzig gemeinten) Kommentaren versehenen Buch eine ambitionierte Ideenskizze vor. Die folgt der Frage: Wie viel Freihandel lässt sich in der sich abzeichnenden neuen geopolitischen Ordnung retten? Denn daran, dass die alte Welt eines regelbasierten Handels nach den Prinzipien der Welthandelsorganisation WTO es künftig noch schwerer haben wird, hegen sie keine Zweifel. Zu groß sind die Widerstände in Washington, Moskau und Peking gegen den Multilateralismus, zu groß die Versuchung, machtbasierte Ordnungen auf Kosten anderer durchzusetzen, sei es mit militärischer Gewalt oder ökonomischem Druck. Zu groß ist auch das Bestreben der EU, Handel im Kampf gegen Schurkenstaaten, Menschenrechtsverletzungen ("Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz") oder den Klimawandel zu instrumentalisieren.
Das Buch beginnt mit einer kurzen, prägnanten ideengeschichtlichen Einführung und Einordnung in die wohlfahrtsökonomische Analyse, nach der Handel Mehrwerte schafft, "die weit über bloße Umverteilung hinausreichen". Alsdann wird das WTO-System einer mit vielen Fallbeispielen durchwirkten Kritik unterzogen. Es wird erklärt, warum Merkantilisten wie Jean-Baptiste Colbert, der Finanzminister des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV., "schon immer falschlagen".
Das legt die Basis für eine intensive Studie der Handelspolitik der ersten Regierung Donald Trump - und seines alten und wohl neuen Handelsbeauftragten Robert Lighthizer. Dessen Wirken beschreiben Felbermayr und Braml als widersprüchlich und inkonsistent. Hier hilft die genaue Kenntnis über Trumps erste Amtszeit bei der Vorbereitung auf dessen zweite. Die Analyse des bundesdeutschen Credos "Wandel durch Handel" ist versehen mit einem Fragezeichen. Auch die eigene Souveränität zu erhalten sei ein wirtschaftspolitisches Ziel, handelspolitische Erpressung müsse vermieden werden.
Die Autoren benennen drei Kriterien, die Eingriffe der Politik in den Markt rechtfertigten - der Leser mag dabei an russisches Gas denken: Kurzfristig gibt es keinen Ersatz, das Gut ist unmittelbar konsumrelevant, es drohen Rationierungen. Damit es so weit erst gar nicht kommt, schlagen sie vor, einen speziellen Zoll auf (homogene) Produkte jener Länder zu erheben, von denen der Importeur besonders abhängig ist. Dieser "Konzentrationszoll" würde die Wettbewerbsposition alternativer Anbieter verbessern und strategisch nachteilige Abhängigkeiten reduzieren. Zudem könnten Regierungen für die Bereitstellung von Gütern wie Munition und Waffen mit Herstellern spezielle Kapazitätsverträge schließen, die dann Fertigungskapazitäten für den Ernstfall vorhalten. Das Modell ist der Stromversorgung entlehnt.
Nicht zuletzt müssten die Staaten sicherstellen, dass etwaige Wirtschaftssanktionen nicht umgangen würden, wie es im Falle Russlands aktuell geschieht. Hier greifen die Ökonomen zurück auf ein Instrument des Kalten Krieges. Das Cocom, eine Einrichtung der NATO-Staaten plus Japan, Australien und der Schweiz, kontrollierte die Ausfuhr von Hightechprodukten in die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten. Das war schon damals weniger spannungsfrei, als es heute mit zeitlichem Abstand erscheinen mag. Ob eine solche "Wirtschafts-NATO" der westlichen Demokratien tatsächlich einen "Technologieschild gegenüber den Autokratien bilden" könnte, erscheint deshalb als eine sehr ambitionierte Politikempfehlung. Leichter wäre womöglich, die Empfehlung an die EU umzusetzen, Sanktionsbrechern mit Sekundärsanktionen zu drohen und ihnen nach US-Vorbild den Zugang zum einheitlichen Markt zu versperren.
Felbermayr und Braml haben eine faktenstarke und lesenswerte Abhandlung zu einem Thema rasant wachsender Bedeutung vorgelegt. Deshalb hätte man auch gerne ein paar Absätze mehr zur Dollarisierung des Welthandels und deren Auswirkungen auf die Geopolitik und das Schmieden neuer potentieller Wirtschaftsallianzen wie den BRICS gelesen. Ihr Buch ist dem Titel zum Trotz kein Abgesang auf den Freihandel, wohl aber eine Mahnung, ihn auch in geopolitisch ruppiger werdenden Zeiten möglichst wohlfahrtsstiftend zu nutzen. ANDREAS MIHM
Gabriel Felbermayr und Martin Braml: Der Freihandel hat fertig - Wie die neue Welt(un)ordnung unseren Wohlstand gefährdet. Amalthea Verlag, Wien 2024, 272 Seiten
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