Die erste Biografie des Kultautors - basierend auf unveröffentlichten und bisher nie ausgewerteten Werken und Briefen aus dem Nachlass.
Rolf Dieter Brinkmann war das Enfant terrible der deutschen Literatur, heute ist er geradezu Kult. Und doch hat sich bisher niemand daran gewagt, dieses rastlose, viel zu kurze Leben in einer Biografie zu vergegenwärtigen - wie es Michael Töteberg und Alexandra Vasa hier tun: von den frühen Jahren im kleinbürgerlich-katholischen Vechta bis zur Zeit in Köln, wo Brinkmann das Beben der 1968er-Revolte erlebt und Gedichte schreibt, die wie ein Faustschlag in die bräsige deutsche Poesie knallen; von seinem Aufenthalt in der Villa Massimo, aus dem das unerhört wütende Italien-Buch Rom, Blicke hervorgegangen ist, und dem in den USA, wo er in Texas lehrte, bis zum Opus magnum Westwärts 1 & 2 und zu Brinkmanns Unfalltod 1975 in London.
Michael Töteberg und Alexandra Vasa konnten erstmals Einsicht nehmen in den bislang unter Verschluss gehaltenen Nachlass, unveröffentlichte literarische Werke und Briefe auswerten. Aus Gesprächen mit Zeitzeugen und engen Freunden Brinkmanns entsteht ein Bild seiner Persönlichkeit: unbequem, radikal, kompromisslos, zugleich aber sensibel und empathisch. Ein wilder Provokateur, zärtlicher Familienvater - und der vielleicht bedeutendste deutsche Lyriker seit Brecht und Benn.
Besprechung vom 22.03.2025
Sein Vater erinnerte ihn an Charlie Chaplin
Fünfzig Jahre nach dem Tod von Rolf Dieter Brinkmann kommt "Westwärts 1 & 2" neu heraus, begleitet von einer Biographie.
Von Christian Metz
Von Christian Metz
Einfach war es im Umgang mit Rolf Dieter Brinkmann nie. Das hätte sowohl dem Wesen als auch dem Selbstbild des strubbeligen Versradikals aus der Kölner Engelbertstraße widersprochen. Unkompliziert ist es auch jetzt nicht, im Jahr seines fünfzigsten Todestages. Nur die guten alten Brinkmann-Bände aus dem Regal zu holen, reicht hinten wie vorn nicht. Die Parallellektüre von zwei Neuerscheinungen muss es schon sein, um Brinkmann adäquat zu begegnen. Und der Rowohlt Verlag weiß zu liefern: eine (nochmals erweiterte) Neuauflage von "Westwärts 1 & 2", die "mit 26 neuen Gedichten und einem Nachwort von Michael Töteberg" bestückt ist. Wobei "neu" hier heißt, dass diese Texte frisch aus dem Brinkmann-Nachlass gefischt wurden.
Warum es dort überhaupt noch etwas zu entdecken gibt, erschließt sich, wenn man parallel zum Gedichtband die erste Brinkmann-Biographie zur Hand nimmt, verfasst von Alexandra Vasa und ebenjenem Michael Töteberg, der auch für die Neuauflage von "Westwärts 1 & 2" verantwortlich zeichnet. Die Enttäuschung vorweg: Das Nachwort der Neuauflage kommt mehr als nur familienähnlich zu den einschlägigen Kapiteln der Biographie daher. Erst kurz vor Schluss weicht das Nachwort von der Biographie ab, um einen Ausflug in jenes Gebiet zu machen, wo es um ein Haar wirklich interessant geworden wäre: zu Brinkmanns fluidem, nicht enden wollendem Schreibprozess, aus dem "Westwärts 1 & 2" ehedem nach jahrelanger Schreibblockade entstanden war. Aber da bricht das Nachwort auch schon ab.
Warum eine Neuauflage jenes Buches notwendig ist, das wenige Monate nach Brinkmanns Unfalltod erschienen war? Weil es damals aus guten verlegerischen Gründen nur in Form eines Kompromisses erscheinen konnte. Einzig mithilfe von klaren Umfangvorgaben und konsequenten Streichungen war Brinkmanns Schreib- und Überarbeitungsrausch einzudämmen. Das Kultbuch war also zugleich eine verstümmelte Form von Brinkmanns Meisterkomposition. Ein Makel, der allerdings mit der Ausgabe von 2005 behoben wurde. Seither liegt die Originalversion vor, wie Brinkmann sie bei Rowohlt vorgelegt hatte. Die jetzige Neuausgabe ist daher über 265 Seiten hinweg deckungsgleich mit der Version von 2005. Hinzugekommen sind 26 Gedichte, die ebenfalls beim Produktionsprozess zu dem Ursprungsband entstanden waren. Eine Sensation ist deren Publikation nicht. Aber die Texte erlangen dieselbe Flughöhe wie die veröffentlichten Texte und werden manch philologischem Kenner und nimmersattem Brinkmann-Leser aufschlussreiche Entdeckungen liefern. Wie elegant sich etwa im Fall des über zwanzig Seiten hinwegreichenden Eingangsgedichts die Lektüre zu einer atemraubenden Passage durch einen Text- und Wahrnehmungsraum öffnet. Das Lesen wird einerseits zum Fluss, um andererseits - in einer zweiten Textspalte - durch immer neue Einschüsse von einzelnen Eindrücken und Zitaten durchschossen zu werden. In dieser feinsinnigen Raum- und Erfahrungspoesie gleicht das Leben einem Gang durch die lebendige Großstadt, bei dem sich Erinnerung, Wahrnehmung und Assoziation kunstvoll überlagern. Großartige Lyrik. Längst nicht mehr einfach nur Kult, sondern Kanon!
Und doch stellt die Biographie die größere Neuheit dar. So wie in "Ich gehe in ein anderes Blau" hat man Brinkmann bislang noch nicht vor Augen gehabt. Offenbar hat dieser ständige Unruhegeist überhaupt nur an drei Orten und in drei kleineren Auszeiten so etwas wie eine Balance gefunden. Bevor er wieder unablässig zu arbeiten, sich zu fordern, sein Umfeld zu überfordern, abzukanzeln oder gern auch einmal übelst zu beleidigen begann. Zwei Besonderheiten zeichnen diese Biographie aus. Zum einen haben die Herausgeber - vor allem mit den Briefen an Henning John von Freyend und Auszügen von Brinkmanns Korrespondenz mit seiner Frau Maleen Brinkmann - Quellen erschließen können, die bislang nicht zugänglich waren. In der Biographie entsteht gerade aus dem Erlebnisstil, den sich die Briefe und Postkarten mit Brinkmanns literarischen Texten teilen, ein beeindruckendes Bild des Dichters. Zum anderen entscheiden sich die beiden Biographen dafür, ihre Kommentierung nur äußerst sparsam einzusetzen. Ihre Porträtkunst beruht auf der geschickten Kompilation des vorgefundenen Materials.
Den Höhepunkt erreicht sie daher, wann immer die Biographen ihrerseits auf das neu aus dem Archiv erhobene Gedichtmaterial zurückgreifen. Zu Brinkmanns Beziehung zum Vater kommentieren sie zum Beispiel knapp: "Er hatte kein gutes Verhältnis zu ihm, doch die letzte Begegnung ging ihm doch nahe. In einem erst 2025 veröffentlichten Gedicht schildert er Eindrücke von seinem Besuch im Krankenhaus." Direkt darauf folgen die ersten beiden Strophen jenes Gedichts aus dem Nachlass. Es setzt mit den Versen ein: "Als ich meinen Vater sterben sah, / erinnerte er mich an den tanzenden, traurigen / Charlie Chaplin". Jeder weitere Kommentar bleibt aus. Stattdessen folgen direkt drei Todesanzeigen, die damals von der Familie, den Kriegskameraden ("Kompanie Hindenburg") und dem örtlichen Schützenverein geschaltet wurden. Mit ihnen erscheint der Vater tatsächlich wie ein Mann aus einer anderen Zeit in einer für ihn falschen Gegenwart.
Damit gelingt Töteberg und Vasa eine ebenso gewagte wie eindrückliche Materialkomposition. In Anbetracht der sparsamen Kommentierungen fällt allerdings auch ins Gewicht, wenn den Verfassern zumindest fragliche Bewertungen unterlaufen. Muss der Traumabegriff in mehrfacher Wiederholung ausgerechnet in seiner populärpsychologischen Verwendung für Brinkmanns Kindheits- und Kriegserlebnisse herhalten? Aber dies sind Kleinigkeiten, gemessen an der Leistung dieser biographischen Erzählung, die Brinkmann von den ersten Schreibversuchen an bis zum fatalen, tödlich endenden Überschreiten der Londoner Straße hin zu einem Pub namens "Shakespeare" als einen Schriftsteller zeigt, der nur eins wollte: auf dem Weg der und zur Literatur sein.
Rolf Dieter Brinkmann: "Westwärts 1 & 2". Gedichte.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2025.
448 S., br., 52,- Euro.
Michael Töteberg und Alexandra Vasa: "Ich gehe in ein anderes Blau". Rolf Dieter Brinkmann - eine Biografie.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2025.
400 S., Abb., geb.
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