Garrett Carr entführt uns in Der Junge aus dem Meer in das raue, mystisch aufgeladene Irland der frühen 1970er Jahre. Die Geschichte beginnt mit einem beinahe märchenhaften Ereignis: Ein kleiner Junge wird an der Küste Donegals angespült wortwörtlich ein Findelkind, dem das Schicksal einen neuen Anfang schenken will. Der Fischer Ambrose Bonnar, ein Mann von großer körperlicher wie seelischer Präsenz, nimmt das Kind ohne Zögern in seine Familie auf. Gemeinsam mit seiner Frau Christine, seinem Sohn Declan, seiner Schwägerin und dem alternden Großvater wächst Brendan, wie das Kind fortan genannt wird, inmitten der spröden Herzlichkeit des kleinen Fischerdorfes auf.
Der Roman verspricht mit dieser Ausgangslage eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Zugehörigkeit, Identität und familiärer Bindung Themen, die besonders in einem kulturell und historisch vielschichtigen Setting wie dem ländlichen Irland viel Potenzial bergen. Doch trotz dieser verheißungsvollen Anlage gelingt es dem Text nicht durchgehend, das emotionale oder erzählerische Gewicht aufzubauen, das man sich erhofft.
Carrs Sprache bleibt über weite Strecken sehr nüchtern und beinahe sachlich eine stilistische Entscheidung, die dem Stoff nicht gerecht wird. Gerade in einem Roman, der von geheimnisvoller Herkunft, menschlicher Wärme und dörflicher Dynamik lebt, hätte man sich mehr poetische Tiefe oder sprachliche Eigenwilligkeit gewünscht. Es fehlt das Funkeln, das einem solchen Inhalt Leben einhauchen könnte.
Auch die Figuren, obwohl von ihrer Konstellation her durchaus interessant, bleiben merkwürdig blass. Weder wächst einem Brendan als Kind besonders ans Herz, noch gelingt es dem Roman, Ambrose, Christine oder Declan in ihrer Komplexität wirklich greifbar zu machen. Man folgt den Personen durch ihre Alltage, durch Spannungen und kleine Dramen, ohne je das Gefühl zu haben, sie wirklich zu kennen oder mit ihnen zu fühlen.
Fazit: Letztlich bleibt Der Junge aus dem Meer eine ruhige, solide erzählte Geschichte über Familie, Zusammenhalt und das Fremde im Vertrauten. Doch wer sich von einem solchen Buch mehr emotionale Tiefe, stärkere Charaktere oder stilistische Raffinesse erhofft, wird hier nicht fündig.