Ingmar Olsen nimmt in Warschau an einer Konferenz zum Thema Atommüll teil, als ein ihm unbekannter Amerikaner auf ihn zukommt und beginnt, ihn über seine Jugendzeit in Norwegen auszufragen, über die er längst mehr zu wissen scheint. Kurz darauf erhält Ingmar einen Anruf von seinem Jugendfreund Jonatan, der sich nach fast 20 Jahren von einem Containerschiff meldet, um etwas zu besprechen, mit dem Ingmar vor Langem abgeschlossen hat. Der Freund und der Fremde bringen Ingmar dazu, über seine damalige Clique nachzudenken, was sie zusammenhielt und auseinandertrieb und mit deren einzigem weiblichen Mitglied Ebba Ingmar bis heute eine große Liebe verbindet.
Unter dem Pflaster liegt der Strand! ist ein ebenso großer wie überwältigender Roman über eine Art Stein, der einen in sieben Minuten die eigene Zukunft durchleben lässt und dabei, tja, keinen Stein auf dem anderen lässt.
»UNGLAUBLICH. Dieser Text: eine Naturgewalt! « Samira El Ouassil
»Unter dem Pflaster liegt der Strand und in diesem Backstein von einem Buch wartet eine epische Reise durch Zeit und Raum, die am Ende genau die richtige Frage stellt: Was macht unsere Zeit auf diesem Planeten eigentlich aus? « Berit Glanz
Besprechung vom 12.03.2025
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Johan Harstads herrlich verstrahlter Roman "Unter dem Pflaster liegt der Strand" erzählt von vier Freunden - und von der Kraft des Atome.
Es wird wieder diesen selbstgefälligen Seufzer geben über den Umfang: 1200 Seiten. Wo alles in Kurzform geschehen muss, kurze Botschaften, kurze Antworten, kurze Werbeunterbrechungen und Verständnissimulationen mit KI-Unterstützung, hat der neue Roman des Norwegers Johan Harstad beste Aussichten auf den Staubfänger des Jahres.
Doch was steckt nicht alles in diesem wundersam verstrahlten Backstein: eine Reise nach Forus bei Stavanger, wo die "Essenz deiner Jugend" aus "endlosen Stunden destillierter Langeweile" besteht, eine Einführung in die Kernphysik mit graziler Unterscheidung von Kernfusion und Kernspaltung, eine Übersicht der Herausforderungen der Containerwirtschaft, eine Bombengeschichte, eine Agentengeschichte, eine Hundegeschichte, den Gedanken, dass wir alle aus Sternenstaub sind, Szenen wie aus "Stranger Things" und ähnlichem Fernsehen.
Und vor allem die Geschichte einer Freundschaft, die sich fand und doch wie alles in der Welt eines Tages wieder zerfallen musste. Im weitesten Sinne geht es um das, was man nicht mehr zurückbekommt, aber auch um den unmöglichen Versuch, in die Zukunft zu sehen und sie trotzdem gestalten zu müssen. Der Titel ist ein Slogan aus dem Pariser Mai 1968: "Sous les pavés, la plage."
1200 Seiten sind unter solchen Umständen ebenso unterhaltsam wie Harstads voriger Roman, der ähnlich umfangreich war: "Max, Mischa und die Tet-Offensive." Er berichtete ebenfalls von einem Sprössling aus Forus, wobei dieser Max in den Achtzigern aufwuchs, in die Vereinigten Staaten verfrachtet wurde und als Theatermann Karriere machte. Die Rezensionen reichten von genervtem Augenrollen bis zur großen Begeisterung über den Mix aus Coming-of-Age-, Künstler-, Auswanderer- und Liebesroman. "Die jüngste Great American Novel stammt von einem Norweger", hieß es damals in dieser Zeitung.
Man muss eben Ruhe für diesen eigenwilligen Schriftsteller finden. Der gerne mal abschweift. Und wieder zurückkommt. Und manchmal Figuren ersinnt, die der Leser über sehr viele Seiten hinweg überhaupt nicht sortieren kann mit ihren absurd detailliert referierten Biographien. Harstad verbaut alles, was ihm beim Schreiben vor die Tinte lief. Er kann sich dagegen nicht wehren.
"Unter dem Pflaster liegt der Strand" beginnt mit einem Ich-Erzähler, der im Jahr 2018 eine wissenschaftliche Konferenz in Warschau besucht. Er ist Kernphysiker von Beruf und lebt mit seiner Frau Ebba in Finnland, wo er in der Nähe des Atomkraftwerks Olkiluoto für die Einrichtung eines Endlagers für hoch radioaktiven Abfall zuständig ist. Kurz vor seinem Vortrag trifft dieser Ingmar im Hotel einen Amerikaner, der sich seltsam zufällig im norwegischen Heimatort des Erzählers auskennt. Es handelt sich dabei um Forus, einen von Gewerbeanlagen geprägten Vorort von Stavanger, dem auch Ingmars Gattin Ebba entstammt. Lange nicht besucht.
Noch jemand kommt aus Forus: Jonatan, ein Logistiker, der zur selben Zeit auf einem Containerschiff unterwegs ist, im Auftrag einer wichtigen asiatischen Firma. Er greift zum Satellitentelefon, meldet sich nach langen Jahren der Stille bei seinem alten Freund Ingmar und raunt: "Wir müssen ihn wieder ausgraben." Ein rätselhafter Satz. Der rote Faden der Geschichte ist mit ihm ausgelegt, umgarnt mit ersten Hinweisen auf Geheimdienste und psychiatrische Therapien und eine verschworene Clique, die in den Neunzigerjahren aus Jonatan, Ingmar, Ebba und einem weiteren Teenager bestand, dem heute auf Island lebenden Ökoterroristen Peter.
Der Erzähler strengt seine Erinnerung an, was nicht leicht ist, weil auch dort Zerfallsprozesse begonnen haben. In den Sinn kommt ihm eine Dokumentation, die der kleine Ingmar kurz nach dem Fall der Berliner Mauer im Fernsehen entdeckt hatte: "Bikini und Bedrohung". Erwartet hatte er andere Bilder. Stattdessen gab es Aufnahmen von Kernwaffentests, die in den Fünfzigerjahren im Pazifik durchgeführt wurden. Es schlossen sich an Aufklärungsgespräche zum Thema Atomkrieg mit dem ernst dreinblickenden Vater. Oder mit Jonatans Vater über Tschernobyl.
Die Verankerung der vielen echten Ereignisse in der fiktiven Geschichte ergibt sich halbwegs natürlich, auch die Erläuterung des sogenannten Kubikel-Reaktors, der just in Forus (eine Erfindung) als Forschungsreaktor am Wasser entstanden sein soll und bis zu seiner protestbedingten Schließung den Eindruck erweckt, "dass jemand die ganze Vorstadt in die Luft sprengen könnte, wenn er einen Fehler machte". Die Betreiber halten ihn für sicher und visionär.
Ein mystischer Ort - für diese Jugendlichen aus der "Prämobiltelefonzeit", die auf Schulhofbänken herumlungern, schales Bier trinken und bei aller Trägheit auch ohne Atomexperiment in der Nachbarschaft das Gefühl haben, "jeden Augenblick könnte etwas Fantastisches geschehen". Sie lernen Ebba kennen, deren Vater Wissenschaftler am Kubikel-Reaktor ist, und pirschen sich an die Anlage heran. Ohne Folgen.
Bis eines Tages in der Nähe wirklich etwas geschieht. Etwas Unwirkliches. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Harstads Buch und den vielen anderen nostalgischen Romanen zum Jugendgefühl vergangener Jahre. Harstad greift in den Werkzeugkasten der Phantastik: Ein Gegenstand wird gefunden, der bei Berührung für sieben Minuten in eine persönliche Variante der Zukunft entführt und ein ganzes Leben bis hin zum Sterben vorhersehen lässt. Für Risiken und Nebenwirkungen fragt man am besten einen Psychiater oder Politikwissenschaftler.
Dieser Einfall ist die große Energiequelle des charmanten Romans. Mag sein, dass solche Special Effects auch ein bisschen in Mode sind: Karl Ove Knausgård kehrt mit einem neuen Planeten am Himmel von der virkelighetslitteratur ab, und die "Berechnungen des Rauminhalts" der Dänin Solvej Balle werden mit Zeitschleifen zu einem meditativen Ereignis.
Aber auch Harstads Effekt - in all der Informationsflut doch eher dezent eingesetzt, der Autor erhebt ihn nicht zum Erzählprinzip - ist von großem Reiz. Harstad erweitert mit ihm die erzählerischen Möglichkeiten, das Nachdenken über die Zeit und das Leben. Er setzt kurz außer Kraft, was Ingmars Vater 1989 bei der Nachbesprechung der Atombomben-Doku so formuliert hat: "Gestern bekommst du morgen nicht zurück. Das ist Entropie." Und trotzdem wird diese Bemerkung auch auf diesen Seiten bestätigt.
Vierzehn Romane wurden Anfang März für den diesjährigen Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. Johan Harstads Roman ist einer von ihnen, und das ist genau die Kategorie, in die er gehört. MATTHIAS HANNEMANN
Johan Harstad: "Unter dem Pflaster liegt der Strand". Roman.
Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein und Stefan Pluschkat. Claassen Verlag, Berlin 2025. 1152 S., geb.
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