Martina Behm, die kennt sich offenbar aus mit den vielfältigen Facetten des Lebens auf dem Land heutzutage. Und sie kann schreiben! Selten hat mich ein Debüt so begeistert wie dieses! Fast 500 Seiten lang und ich habe mich keine Sekunde gelangweilt und immer bestens unterhalten gefühlt.
In "Hier draußen" lernen wir außergewöhnlich lebensechte, fein gezeichnete und vielfältige Charaktere kennen. Da ist das moderne Paar aus Hamburg, Ingo und Lara, er Start-Up-Unternehmer, sie Grafik-Designerin, zwei Kinder im Volksschulalter, das sich den Traum von der Idylle und Ruhe auf dem Land und dem unbeschwerten Aufwachsen der Kinder dort erfüllen will. So wird kurzerhand eine hohe Hypothek aufgenommen, ein alter Hof gekauft und saniert. Es bleibt spannend, mitzuverfolgen, ob und wie diese urban geprägten Menschen im Landleben und in der Dorfgemeinschaft ankommen werden, und was es mit ihrer Beziehung macht, wenn Ingo weiterhin seine Tage und oft auch Abende in Hamburg verbringt, während Lara alleine mit den Kindern auf dem Land ist.
Dann gibt es Jutta und Armin, die Übriggebliebenen einer alternativen Wohngemeinschaft mit sechs Menschen, die vor mehreren Jahrzehnten aufs Land gezogen sind. Die beiden sind gute Freunde, vielleicht auch ein bisschen mehr. Jutta gibt Kurse im Hühner-Schlachten, Armin renoviert leerstehende Gebäude, um Ferienwohnungen zu errichten. Insgesamt scheinen sich die beiden über die lange Zeit gut eingelebt zu haben auf dem Land.
Den alleinstehenden Bauer und passionierten Jäger Uwe, mit seiner treuen Jagdhündin Milla, lernt Ingo schon bald nach seinem Umzug näher kennen, als letzterer mit dem Auto versehentlich eine weiße Hirschkuh überfahren hat. Gemeinsam geben die beiden Männer dem schwer verletzten Tier den Gnadenschuss, freunden sich an, Ingo begeistert sich für die Natur und die Jagd, und beide fürchten ein bisschen den im Dorf verbreiteten Aberglauben, dem zufolge es Unglück bringe, eine weiße Hirschkuh getötet zu haben... auch das verbindet.
Noch einige weitere Menschen leben im Dorf, die wir näher kennen lernen: Maggy, ursprünglich aus der Kreisstadt, die sich in den Bauern Sönke verliebt und ihn geheiratet hat, und nun seit Jahrzehnten versucht, die angepassteste und fleißigste Landfrau von allen zu sein, um dazuzugehören. Ihre erwachsene Tochter Marieke, die dieses Beispiel ihrer Mutter abschreckend findet und eine moderne und unabhängige Frau ist... gleichzeitig aber tief mit der Landwirtschaft verbunden und interessiert daran, diese zu übernehmen.
Tove und Enno, die seit Jahrzehnten eine lieblose Ehe führen... die erwachsenen Söhne sind längst aus der Landwirtschaft in andere Berufe und in geografisch weiter entfernte Regionen geflüchtet, keiner davon wollte den Hof übernehmen... wie lange wird Tove, der selbst nichts gehört und die nichts geerbt hat (ihre Eltern haben die ganze Landwirtschaft dem Sohn alleine vererbt) sich noch von ihrem Mann heruntermachen und abwerten lassen?
Diese kurzen Charakterisierungen einiger Dorfbewohner zeigen schon - es sind ganz vielfältige und sehr unterschiedliche Menschen, die sich hier im kleinen Fehrdorf treffen. Die sich kennen lernen, übereinander und miteinander sprechen, gemeinsam Feste organisieren, sich misstrauisch aus der Ferne beäugen, sich aushelfen oder sich auch langsam anfreunden... auch über Alters- und Milieugrenzen hinweg.
Das Buch wechselt immer wieder mal die Perspektive, aus der die Ereignisse erzählt werden, mal erleben wir die Sicht von Ingo, dann die von Lara, dann z.B. die von Uwe oder von Jutta usw. Dadurch bekommen wir beim Lesen noch einmal einen spannenderen und vielschichtigen Blick auf das Dorfgeschehen und die Beziehungen der Menschen untereinander. Gleichzeitig ist es damit ein klug erzähltes Buch, das auch durch diesen Perspektivwechsel aufzeigt, wie differenziert das sein kann, was wir als Tatsache oder Wahrheit ansehen, denn jede und jeder hat den jeweils eigenen, einzigartigen Blick auf die Menschen und Geschehnisse.
Insgesamt gelingt es der Autorin ausgezeichnet, ein vielfarbiges Bild modernen Landlebens zu zeichnen. Neben den Beziehungen der Menschen, die im Zentrum des Romans stehen, thematisiert sie auch Phänomene wie den Umbruch in der modernen Landwirtschaft und die Herausforderungen, mit denen die Bauern zu kämpfen haben (oft geforderter, aber schwieriger Umstieg auf Bio, Modernisierungsdruck, Nachfolgeprobleme,...), genauso wie Werteunterschiede zwischen Stadt und Land und damit einhergehende Verständnisprobleme, die erst überwunden werden müssen (etwa eine Psychologin aus der Stadt, die vor den Landfrauen einen Vortrag über Beziehungsqualität hält, der aber sehr an die Befindlichkeiten urbaner Menschen angepasst ist und viele der Dorfbewohner inhaltlich und emotional nicht erreicht).
Das Buch ist damit nicht nur sehr unterhaltsam geschrieben, sondern auch psychologisch glaubhaft konstruiert, mit tiefgründigen und vielschichtigen Charakteren, einem sehr authentisch geschilderten Setting und so, dass man dabei viel über die Facetten modernen Landlebens lernt. Ein großartiges Debüt: literarisch wertvoll und toll zu lesen - absolute Leseempfehlung!