Besprechung vom 27.03.2025
Wo Schweden und Finnland im Süden liegen
Norwegische Literatur blüht im Jahr des Gastlandauftritts in Leipzig: Besonders bemerkenswert ist "Der Aufbruch" von Ingeborg Arvola
Zum Norwegen-Schwerpunkt der diesjährigen Leipziger Buchmesse erscheinen viele lesenswerte Bücher aus dem Land mit der ewig langen und tief ins Land gezackten Küste und einer ähnlich aufregenden Erzähltradition. Aber nur eines dieser Bücher spielt ganz, ganz oben: In der norwegischen Finnmark, von wo aus man Schweden und Finnland im Süden sehen kann. Was nicht vielen Landstrichen in Europa gegeben ist.
Der Roman der fünfzig Jahre alten Schriftstellerin Ingeborg Arvola erzählt einen Teil ihrer Familiengeschichte, eingebettet in einen fiktiven Gesamtrahmen. Die Hauptfigur ist Brita Caisa Seipajærvi (die Ur-Ur-Urgroßmutter der Autorin); sie ist eine Frau von sehr großer Schönheit, gleich großer Klugheit, Güte, Stärke, Geschick und Ausdauer, zudem hat sie ein Vermögen, zu heilen - gleichermaßen Menschen und Tiere. Ihre leider früh verstorbene Schwester sagt über Brita Cajsa: "Du lächelst die Sonne hervor, meine Brita."
Brita Caisa ist Nordfinnin, Tochter einer verhärmten Frau und eines kleinkriminellen Säufers, und hat zwei uneheliche Söhne von verschiedenen Männern, den elfjährigen Alexi oder Alexander und den dreijährigen Heikki oder Hendrik. Dieser "Unzucht" wegen erleidet sie eine Strafe der Kirche, damals die Vertretung der Obrigkeit in den einsamen Weiten Nordfinnlands. Vier Sonntage lang musste sie in der Kirche öffentlich die laut und hasserfüllt ausgestoßenen Beschimpfungen von Pfarrer und Gemeinde, vor beiden stehend, ertragen; wir schreiben die Zeit um 1860, und die absolut lieblose Dumpfheit des seinerzeitigen Christentums als Herrschaftsform vermag man sich in unserer Gegenwart kaum vorzustellen.
Das Sehnsuchtsziel vieler Menschen damals dort oben war die Eismeerküste, die Barentssee. Dort wurde Fisch im Überfluss gefangen, man litt keinen Hunger, und dort gab es Arbeit, dort entwickelten sich gesellschaftlich und politisch modernere Verhältnisse. Brita Cajsa bricht mit ihren Jungen zusammen mit einer Reisegruppe auf: Sokea Matti, seine Frau Valla und deren drei Söhne Tomas, Lille Matti und Erman. Sie alle wollen für immer weg aus Finnland und am Eismeer ihr Glück suchen. Es ist ein langer Weg, sie sind auf Skiern unterwegs mit Rentieren vor einem Schlitten, einem Pulka, jenem bootsförmigen Schlitten der Samen, den Fridtjof Nansen in die Ausrüstung der Polarforscher einführte. Hier fahren die kleinen Jungs damit. Es geht nach Ruija als endgültigem Ziel, auf der nördlichen Seite des sich in die Barentssee erstreckenden Varangerfjords in Norwegen, nahe dem heutigen Vadsø. Aber zuerst müssen sie an die südliche Seite des Fjords kommen, nach Pykeijä oder norwegisch Bugøynes, unweit des heutigen Kirkenes. Die Winterwanderer sind guten Muts und guter Dinge auf ihrer Tour von circa 700 Kilometern. Denn sie wollen sich ein besseres Leben erobern. Und Brita will heiraten, "einen Fischer mit Boot und Haus und Land. Einen guten Fischer . . ., der weiß, wo die Fischgründe sind, und sein Einkommen nicht versäuft. Einen anständigen Mann."
Die Leidenschaft ist die große Triebfeder des Romans; die Gruppe will unbedingt an die Küste und dort Glück und Geld machen. Unterwegs sind sie monatelang; immer mit großen Pausen auf finnischen Bauernhöfen oder in Lagern von Samen. Sie erfahren die kulturelle Vielfalt des Landstrichs, aus dem sie stammen; das Sprachengemisch zwischen Finnisch, samischen Dialekten, Schwedisch und Norwegisch wird im Laufe der Erzählung wunderbar eingefangen. Ein Problem ist Britas Schönheit - kein verheirateter und kein unverheirateter Mann kann die Augen von ihr lassen. Doch sie gewöhnt sich eine gewisse diesbezüglich gleichmütige Haltung an. Ihre Heilkünste kann sie erproben, sowohl am Tier wie am Menschen. Als sie den Samen Ville behandelt, der eine offene Wunde hat, die schon zu stinken angefangen hat, leiht sie von dessen Nachbarn dessen Messer; der muss es ins Feuer halten, bevor es als OP-Besteck genutzt wird.
Auf diese Episode geht der norwegische Originaltitel zurück, der übersetzt "Das Messer im Feuer" lautet. Beim Ausschneiden der Wunde singt Brita Kirchenlieder und betet um Gottes Beistand. Ihre Heilkünste sind in Beschwörungen eingebettet, die auch vor dem Sprechen mit Trollen und unterirdischen Geistern nicht haltmachen. So wandern sie von Kleinsiedlung zu Kleinsiedlung und gelangen ans Meer und zum Fisch; alles ist dort, wie sie es sich vorgestellt haben. Auf der letzten Etappe vor der Küste sind sie zu Gast beim kinderlosen Bauernpaar Mikkel Aska (oder Askan Mikko) und seiner Frau Gretha Lisa. Sie haben es gut miteinander, helfen auf dem Hof und in anderen Siedlungen, verdienen eigenes Geld an der Küste beim Fischen und Fischverarbeiten. Doch Mikkel Aska verliebt sich in Brita Cajsa und sie sich in ihn; sie sind ein schönes Paar, dem man wünscht, dass sie es gut haben sollen. Was mehr oder weniger auch geschieht, allerdings zum Ende des Romans neben einer Schwangerschaft abermals in eine kirchlich-obrigkeitlich verhängte Strafe mündet.
Arvolas Buch ist ein wunderbar zu lesendes Epos in bester skandinavischer Erzähltradition. Wir können gleich hoch ins Regal greifen und Knut Hamsun und Selma Lagerlöf nennen, unter den Zeitgenossen vielleicht den Finnlandschweden Kjell Westö, Kerstin Ekman oder auch Håkan Nesser. Man ist gespannt wie ein Flitzebogen, um endlich zu wissen, was hinter der nächsten Schneewehe oder dem nächsten Gumpen im Fluss passieren wird. Hier wird wenig der Phantasie des Lesers überlassen, gleichwohl befeuert der Klartext von Natur- und Gefühlsschilderungen, von Episoden sozialer Stimmungen und Verhältnisse, von alten Lebenswelten aus dem äußersten Norden Europas jene Phantasie, die erst beim Lesen eines gelungenen Buches freigesetzt werden kann, aufs Beste. Die Hauptfigur Brita Cajsa ist als Ich-Erzählerin gleichermaßen eine in vieler Hinsicht modern denkende und fühlende Frau. Das überzeugend hinzubekommen, ist keine einfache schriftstellerische Übung. Natürlich kann man von Frauenliteratur sprechen, muss man aber nicht. "Der Aufbruch" ist der erste Roman der auf drei Bände veranlagten "Eismeer"-Trilogie, von Ingeborg Arvola. Der man freudig gespannt entgegensehen darf. STEPHAN OPITZ
Ingeborg Arvola: "Der Aufbruch". Roman.
Aus dem Norwegischen von Katharina Martl.
Btb, München 2025.
416 S., geb.
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