Besprechung vom 23.03.2025
Ewiges Wachliegen in der Nacht
Warum der Norweger Tarjei Vesaas zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gehört
Von Bettina Hartz
Der vierzehnjährige Hallstein ist mit seiner vier Jahre älteren Schwester Sissel allein im Haus, und das ganze Haus fühlt sich anders an, "weil dies eine Mal beide, Vater und Mutter, weggefahren waren". Das Haus liegt einsam an der Straße, die nächste Ortschaft ist einige Kilometer entfernt. Hallstein ist glücklich, so mit der Schwester allein zu sein, unbeobachtet, ungestört in seiner Kinderwelt an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Er ist ein verträumter Junge, dem alles Zeichen und Geheimnis ist. Noch ganz umfangen vom kindlich-magischen Denken, lebt er in inniger Verbundenheit mit der Natur. "Hallstein (...) verschränkte die Hände in seinem Rücken und vollführte mit ihnen weiche geheime Zeichen in seiner Märchenwelt: Für Engelwurz, Schnecken, Regen -, sagte er lautlos."
Es ist ein heißer Spätfrühlingstag, fast schon Sommer, es wird kaum noch dunkel in der Nacht, Regen liegt in der Luft. Sissel hat Besuch von ihrem Verehrer Tore, die beiden hören Radio, Hallstein belauscht sie, und als Tore enttäuscht geht (er hat nicht bekommen, was er von Sissel wollte, ein Eingeständnis, dass sie ihn mag wie er sie), ist Hallstein verwirrt und steigt hinab zu "seiner" Wiese, wo der hochwüchsige Engelwurz steht, diese "einfach ganz herrlichen Blumen", die so "fremd emporragen mit brausenden Blütenrädern" und dessen Blütenschirme Funken sprühen. Wo es Schlangen gibt und schwarze Schnecken, die den kommenden Regen schon spüren und herauskriechen aus ihren Verstecken, einen ansehen. Dies ist "seine" Wiese, sein Ort, sein Reich, aber Sissel darf mit dahin, und dann sitzen sie beide zusammen bei den Schnecken im Regen, in stillem geschwisterlichen Einverständnis, an diesem Abend zu zweit.
Doch dann kommt alles ganz anders. Kein schöner Abend, in Sicherheit und Freiheit zugleich, wo man in Ruhe und Frieden miteinander im Haus sitzt, während draußen der Regen niederströmt, wie die beiden eben noch dachten, nein, plötzlich klopft es hart an die Tür und ist das ganze Haus mit einem Mal voll mit Menschen, Aufregung, Unverständlichem, mit Anforderungen, denen die Kinder nicht gewachsen sind und denen sie doch gewachsen sein müssen.
Ein Auto hatte eine Panne, und herauf zu Sissel und Hallstein kommen eine Frau, Grete, die in den Wehen liegt, ihr Mann Karl, dessen Vater Hjalmar und seine zweite Frau Kristine, die vorgeblich weder gehen noch sprechen kann, getragen werden muss, aber gerade durch ihre Immobilität und Stummheit die Szenerie beherrscht. Auch ein dreizehnjähriges Mädchen ist dabei, Gudrun, die jüngere Schwester von Karl, die nicht nur heißt, wie sich Hallstein seine ausgedachte Spielgefährtin imaginiert, sondern auch so aussieht: mit ebensolchem wilden Haarschopf, der ihr in die Stirn fällt. Hallstein ist tief berührt und verzaubert.
Was für eine Nacht. Der kleine Roman, der lyrisch und heiter, ein wenig schwermütig begonnen hat, entwickelt sich mit dem Auftritt der nächtlichen Gäste zu einem Ibsen'schen Familiendrama. Beschimpfungen, Verdächtigungen, Vorwürfe, stumme und lautstarke Dialoge, Verhöre, Unbegreifliches, Ungreifbares. Karl und Hjalmar kämpfen den ewigen Kampf von Vater und Sohn, ein Kind wird geboren, die rätselhafte Kristine stirbt. Und mittendrin Hallstein, der nichts von dem, was um ihn geschieht, wirklich versteht und dennoch mittut, Partei ergreift, mitkämpft und der mit Gudrun zarte, zärtliche Szenen kindlich-vorpubertärer Intimität erlebt, die ihn mit pochender Freude erfüllen und ihn dann, als er begreift, dass nur er von erster Liebe ergriffen ist, aufschluchzen lassen.
Niemand bekommt viel Schlaf in dieser Nacht, es ist ein ewiges Wachliegen, Einnicken, Gewecktwerden, Herumwandern, Sprechen, Lauschen, Aufschrecken, vermischt mit äußeren Geschehnissen, Fahrten zum Krankenhaus etwa, die aber durch den Schleier der Müdigkeit etwas Halluzinatorisches bekommen. Wir haben das alles nur geträumt!, denkt Hallstein am Morgen, als für kurze Zeit Stille eingetreten ist und er mit Sissel auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzt, den Kopf in ihrem Schoß. Und auch für den Leser, die Leserin erinnert das Erzählte an einen Traum, bei dem man zusieht und zugleich in Hallstein drinsteckt und durch ihn wahrnimmt. Für ein Kind, für einen Künstler, vielleicht für uns alle ist so ein Traum oft wirklicher als die reale Welt.
Die große Kunst Tarjei Vesaas' ist, dass er die Grenzen zwischen innen und außen durchlässig macht und seinen Erzähler mäandern lässt zwischen objektivierender und höchst subjektiver Sicht, auktorialer und Figurenperspektive - oft geht das in einem Halbsatz ineinander und bringt die Dinge, die Empfindungen ins Schweben, verwebt sie, ja erschafft sie im Grunde erst im Medium der Sprache, seiner Sprachkunst. Die Logik einer sogenannt realistischen Welt regiert lediglich die äußeren Punkte der Handlung, schafft die faktischen Ereignisse - in dem so aufgespannten Raum entspinnt sich dann das Eigentliche von Vesaas' Erzählen: die ihm und nur ihm eigene Welt wirklicher, das bedeutet wirklich empfundener Beziehungen zwischen Mensch und Tier, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und kosmischer Landschaft: "Es war das Licht dort draußen. Das niedrige Nachtlicht über der Landschaft, über den Wiesen und dem Dunst, über der Engelwurzwiese mit den großen Blütendolden, über allem, das sich in den Grasbüscheln verbarg. Siehst du das denn nicht, Sissel?, dachte er (...) - während er spürte, wie schwer und schläfrig Sissel war."
Der fließende Übergang von der Wahrnehmung über die Bewusstwerdung bis hin zum Erleben als innerer Erfahrung, die mitgeteilt werden will, ist Vesaas' Schreibspur, der wir lesend folgen; feinste Schwingungen, Stimmungen nimmt Vesaas auf, findet Worte, die schlicht und hochpoetisch zugleich sind, beobachtet, projiziert, deutet, genießt, erschafft eine Welt, in der sich, quasi osmotisch, unsere eigenen Empfindungen, Sehnsüchte, Weichheiten, Erinnerungen einfinden und so (wieder) erfahrbar werden können, als das Ureigene, Vertraute - und zugleich Urfremde, Verdrängte. Denn Vesaas markiert immer auch deutlich, dass wir, die Leserinnen und Leser, uns woanders befinden als am Ort der Erzählung; die Erzählung geht, indem wir lesen, durch uns hindurch, und zugleich bleibt sie uns immer um ein Winziges entrückt, bleibt spröde, kühl. Sie ist das andere, das uns nah kommt und in dem wir uns selbst entdecken, das in uns Verschüttete wiederfinden, sodass wir im Lesen Wahrnehmende, Fühlende, Verletzliche werden, Kinder, an der Schwelle zum Erwachsenwerden.
Tarjei Vesaas: "Frühlingsnacht". Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Hanne Ørstavik. Guggolz Verlag, 240 Seiten
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