Besprechung vom 09.11.2021
Pikante Zutaten
Adolf Muschgs neuer Roman "Aberleben"
"Ich fände es langweilig, als Künstler und Mensch immer das Gleiche zu sein. Jemand, der bloß mit sich selbst identisch sein will, tut mir leid", so der siebenundachtzigjährige Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg in einem Interview zu seinem neuen Roman. Den Vorwurf, der sei zu kompliziert, zu versponnen, ein wenig hyperventiliert, lässt er nicht gelten.
Muschg war schon immer für Überraschungen gut, ob er nun auf historischen Pfaden wandelte wie mit Parzival, japanische Geschichte verarbeitete oder seinem Landsmann Gottfried Keller ein wunderbares Epitaph setzte. Muschg liebt die Verwegenheit seiner Stoffe, er liebt die Vielfalt und verliert sich gerne in sprachlicher Artistik. Der Leser mag ihm folgen oder nicht, Muschg bleibt der absolute Souverän seiner überbordenden, manchmal skurrilen Fantasie.
"Aberleben" fängt ganz harmlos an. Der Schweizer Schriftsteller A., siebzig Jahre alt, hat eine Schreibblockade. Er verlässt die Schweiz und die Gattin, möchte in Berlin neuen Schwung finden. Dann wird die Szenerie immer turbulenter. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Akademie der Künste, über die der reale Autor von 2003 bis 2005 präsidierte, zieht er nach Charlottenburg, in die Nähe des Savignyplatzes. Jean-Paul-Straße nennt er seinen neuen Wohnsitz - eine Straße, die es dort nicht gibt, was andeutet: Hier geht alles nicht mit rechten Dingen zu. Die Welt ist schräg; hinter geheimnisvollen Türen bizarre Bewohner, ganz oben residiert die kapriziöse Besitzerin Minette von dem Knesebeck, die sich am liebsten in komischen und lasziven Vers-Zitaten unterhält. Der Schriftsteller A. möchte nicht nur seinen neuen Roman vollenden, er will auch eine Romanfigur "Sutter", die der wahrhaftige Schriftsteller Muschg in "Sutters Glück" 2001 schon einmal sterben ließ, wieder zum Leben erwecken (nicht zum ersten Mal).
Das mag ja noch angehen, aber dann ereilt ihn ein neuer Auftrag. Der Sparkassendirektor von Bebenroda, einem gottverlassenen Kaff in Sachsen-Anhalt, gibt ihm den Auftrag, die nächste Weihnachtspredigt dort zu halten. Nun schlagen die Gedankenspiele wilde Salti. Dazu plagt den Dichter A., der bei Weitem nicht so erfolgreich ist wie sein Erfinder Adolf Muschg, eine Krebserkrankung, die ihn überwältigt: "Es blieb nur die palliative Hormontherapie, von der A. ahnte und dann auch erlebte, was sie bedeutete: anhaltende Fatigue und Unlust und Stillstand seiner Produktivität. Libido, das sprunghafte Biest, hatte sich zur Ruhe gelegt. Und das Beste, was er von ihrem Unterdrücker erwarten konnte, war eine Verlängerung seiner Galgenfrist."
Diese Frist nutzt A. aber ganz munter. Viele Frauen tauchen in seiner Erinnerung auf, vermischen sich miteinander, treiben Schabernack und Scherz. Fast wie im Märchen stolpert A. von Ort zu Ort. Bei Bebenroda wohnt er in der Mühle Aberleben, wo der echte Schriftsteller Muschg schon einmal mit einer seiner Frauen eingekehrt war. Nun bewohnt eine alte, verschrobene Frau das Anwesen und führt ihn auf weitere Pfade der Vergangenheit. Die Mühle wurde nach dem Ende der DDR von einem Schweizer Architekten restauriert und zu einem Treffpunkt eines exklusiven, ausgelassenen Frauenzirkels.
A., eingehüllt in Gespinste, weigert sich plötzlich, die Weihnachtspredigt in Bebenroda zu halten, er reist dahin ab, wo alle Frauen, die ihm bisher schon über den Weg gelaufen sind, ebenfalls hinreisen: in das zauberhafte marokkanische Städtchen Essaouira an der Atlantikküste; dort wollen die Frauen für den Mühlenrestaurator eine Theateraufführung inszenieren: "Amphytrion". Eine lebendige, gar nicht alterszugewandte Gesellschaft trifft sich dort. Die Komik dieser Zusammenkunft sprudelt, von Galgenfrist keine Spur mehr.
Natürlich kann es Adolf Muschg nicht lassen, seinen Roman mit delikaten Zitaten zu garnieren, von Heinrich von Morungen bis Arthur Rimbaud. Er möchte, dass dieses wertvolle Bildungsgut nicht verloren geht, dass es präsent bleibt. Ohne Scheu bekennt der Autor: "Ich halte mich an Goethes Maxime, ohne Poesie sei auf der Welt nichts Rechtes zu schaffen. Daher habe ich auch meiner Sucht gefrönt, ein paar Gedichte meines Lebens in den Stoff zu verwirken." LERKE VON SAALFELD
Adolf Muschg:
"Aberleben". Roman.
C. H. Beck Verlag, München 2021. 366 S., geb.
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