Besprechung vom 15.02.2025
Protokoll einer Befreiung
Vom herausragenden Intellektuellen der Schweiz: Adolf Muschg liefert mit der Erzählung "Nicht mein Leben" ein nur leicht verkapptes Selbstporträt
Noch einmal taucht er ab in die Vergangenheit. Wie mit einem Scheinwerfer beleuchtet er die Höhepunkte und Klippen, Krisen und Glücksmomente seiner Biographie. Adolf Muschg, Büchnerpreisträger und Doyen der Schweizer Literatur, der als unangepasster Vordenker den intellektuellen und politischen Diskurs der Schweiz prägte, inszeniert in der Erzählung "Nicht mein Leben" das eigene Schicksal. Es ist eine Rückkehr zu den Wurzeln, gleichzeitig ein Exorzieren der Angst vor dem Ende, indem er den eigenen Tod in einen öffentlichen Hallraum projiziert. Die Geschichte des August Mormann, eines achtzigjährigen Gymnasiallehrers für Alte Sprachen und Autors leidenschaftlicher Essays über Europa, ist zwar in manchen Versatzstücken Muschgs eigene, es ist aber auch eine arrangierte. Kein Zufall, dass der Name des Protagonisten mit A. M. dieselben Initialen hat wie jener des Autors.
Der heute neunzigjährige Muschg war zu Beginn seiner Laufbahn ebenfalls Gymnasiallehrer. Wie sein Held ist er mit einer Japanerin verheiratet. Aber Muschg wäre nicht der gewiefte Literaturwissenschaftler, wenn er sein Leben nicht mäandrierend verfremden würde, um herauszufinden, wie er zu dem wurde, der er ist. Mal erzählt er aus der Ich-Perspektive, mal wechselt er blitzschnell in jene des Er-Erzählers, der auf einen fremden Helden blickt. Trotz aller leicht erkennbaren Eckdaten ist es ein artifizielles Spiel, um die Regeln des eigenen Lebens zu überdenken.
Diese Doppel-Konstellation annonciert programmatisch paradox schon der Titel. "Nicht mein Leben" setzt ein mit der Suche nach einem Grab und endet mit dem imaginierten Tod des Helden auf einem Gartenstuhl am See. Die Pfeife ist Mormann entfallen, eine Hand hält noch das Opernglas, als ob er dem Tod schon von Weitem hätte entgegenblicken wollen. Ein hyperrealistisches Traumbild. Die Landschaft vor ihm verwandelt sich in das Bild eines flachen Strandes, aus der Düne ragt die krumm gewordene Föhre auf, die Mormann zum Richtfest seines Hauses eigenhändig gepflanzt hatte. Der Mond steigt auf. Am Ende versinkt auch der Stuhl im Nichts. "Niemand vermisste den Mann", so der letzte Satz der Erzählung.
"Darf ich mit dir in ein Grab? fragte Aki" - der erste Satz der Geschichte bildet das Gegenstück. Wie um den Abstieg ins Unbewusste, ins Traumland, ins verschattete Jenseits zu illustrieren, setzt die Erzählung mit einem mitternächtlichen Ausflug des Paares ein. Mit Stirnleuchten und Stöcken steigen sie den steilen Weg zum nahen Wald auf. Aki buchstabiert die Figuren der Sternbilder anhand einer App ihres Handys aus. Es herrscht tiefes Schweigen. Am Waldrand sagt Aki, was sie oft zu Mormann sagt: "shinanai" - "noch nicht sterben". Plötzlich meinen sie, im dunklen Wald in eine Falle geraten zu sein, jemanden zu hören, der sie in der Finsternis verfolgt. Sie kehren brüsk zurück. Eine Schimäre.
In den folgenden Tagen werden die beiden auf dem Zürcher Friedhof Enzenbühl ein Familiengrab mieten. Mormann hat sich für diesen Ort entschieden, weil die frühen Spaziergänge in die Stadt an der Hand der Mutter jeweils mitten hindurchgeführt hatten. Seine künftige Ruhestätte liegt unter jener von Weggefährten wie Ernst Zahn, Urs Widmer, Bruno Ganz, seinem ehemaligen Psychoanalytiker Paul Parin und vor allem in unmittelbarer Nähe zu Robin P. Marcus, einem Schulfreund aus der Zeit im evangelischen Internat von Schiers. Mormann verdankt Robin seine Erlösung: Der Halbjude spielte als Jugendlicher wider alle Zwänge den Leon in Grillparzers "Weh dem, der lügt". Das wird für ihn zum Vorbild der Selbstbefreiung von den Lügen des eigenen Milieus.
"Nicht mein Leben" steckt voller literarischer und politischer Anspielungen. Auf einem Europa-Symposium in Triest, das mit dem Auftakt des Ukrainekrieges zusammenfällt, soll er eine Rede halten zum Thema "Europa wohin". Dieses Treffen von Intellektuellen artet am Vorabend des Bruderkriegs in ein turbulentes Stimmengewirr aus, ergebnislos. Und Bruderkrieg herrschte auch in Murmanns Familie.
Diese Passagen der Erzählung gehören zu den eindrücklichsten. Denn alles hätte für Muschg auch ganz anders werden können. Er erzählt, wie sein Vater, ein Primarlehrer, starb, als er erst dreizehn war. Wie seine mittellos gewordene Mutter, die zweite Frau des Vaters, für Jahre in die Nervenklinik kam. Wie die beiden um vieles älteren Halbgeschwister ihn ins Waisenhaus stecken und zu einer Schneiderlehre zwingen wollten. Wie er sein ganzes Glück dem Eingreifen eines prominenten Nachbarn, Professor und Mitglied des ETH-Hochschulrates, verdankte, der dem Vater auf dem Totenbett versprochen hatte, für den künftigen Waisen zu sorgen.
Adolf Muschg wäre nicht zum herausragenden Intellektuellen der Schweiz geworden, wenn er nicht ungewöhnliche Eigenschaften hätte. Eine ist jene der Fähigkeit zu Verständigung und Versöhnung auch mit politisch Andersdenkenden, jenseits erstarrter Links-rechts-Muster. Als Linksintellektueller stritt er mehrfach öffentlich mit dem ehemaligen SVP-Bundesrat Christoph Blocher, dem Parteichef der Bauernpartei und milliardenschweren Schweizer Unternehmer. Wie souverän Muschg mit seinen Gegnern, die niemals seine Feinde waren, verhandelte, demonstriert er noch einmal, indem er Blocher - wer hätte das gedacht? - zum Schluss einen souveränen Auftritt gewährt: Mormann trifft ihn als Mäzen wieder. Einem befreundeten Regisseur hatte "der Bauer" zur Inszenierung des "Cyrano" geraten, da dies eine tolle Geschichte sei, und sie finanziert. Schließlich besucht Mormann den "Bauern" im Kloster Rheinau, das dieser aufgekauft, renoviert und als renommiertes Musikzentrum installiert hat. Adolf Muschg liefert mit "Nicht mein Leben" nicht nur eine spielerische mehrdeutige Version des eigenen Lebens. Er zieht auch eine Lebensbilanz und offeriert ein literarisches Vermächtnis, das ohne Zweifel in einem nächsten Buch noch Fortsetzung finden wird. PIA REINACHER
Adolf Muschg: "Nicht mein Leben". Erzählung.
Verlag C. H. Beck,
München 2025.
176 S., geb.
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