Über die vielzitierten kleinen Leute hat die jüdische Schriftstellerin Alice Berend geschrieben, sie selbst kam aus großbürgerlichem Hause, sie hatte schon immer den Drang, zu schreiben. Ihr Roman Frau Hempels Tochter erschien 1913, schon ihre vorherigen Bücher waren erfolgreich, weitere erschienen, sie wurde die meistgelesene Schriftstellerin ihrer Zeit in Deutschland. Ihre Werke wurden von den Nationalsozialisten verboten, sie ging in die Schweiz und später dann nach Italien.
Nun zum Buch, dem ich hier noch ein wenig nachspüren will: Frau Hempel lebt mit ihrem Mann, einem Schuster, und ihrer Tochter als Portiersfrau in einem Berliner Mietshaus. Laura heiß Frau Hempels Tochter. Sie ist jung, bildschön und will hinaus aus der Kellerwohnung der Eltern, hinaus ins Leben. Zunächst schafft sie es einige Stockwerke höher zu den Brombachs, dort ist sie als Kindermädchen angestellt. Nun, Laura sieht dann und wann von Brombachs Wohnung aus dem Fenster und was oder besser gesagt wen sie sieht, erfüllt sie mit Freude. Es ist Eugen, der junge Graf von Prillberg, der ihr ausgesprochen gut gefällt.
Frau Hempel ist fleißig und rechtschaffen, ihr großes Ziel ist es, eines Tages im eigenen Häuschen zu wohnen, dafür legt sie jeden entbehrbaren Groschen zur Seite. Sie ist zufrieden mit dem, was sie hat. Ganz anders die Gräfin von Prillberg, deren Gatte als Sektagent von Haus zu Haus tingelt und sie nun verarmt im Hinterhaus wohnen müssen. Denn die Gräfin war sehr unglücklich, und ihr einziges Vergnügen war, sich über ihr Schicksal beklagen zu dürfen.
Auch wenn der Schreibstil gerade anfangs etwas sperrig anmutet, so gewöhnt man sich schnell daran und geht über, die Geschichte im Kleinbürgermilieu zu genießen. Schuster, bleib bei deinem Leisten heißt es so schön, in unserem Falle wäre die Tochter eines Schuhmachers und einer Dienstbotin bei Ihresgleichen gut aufgehoben, sie aber folgt ihrem Herzen, unterstützt von ihrer lebensklugen Mutter. Wir sind in Berlin zur Jahrhundertwende, die Grenzen zwischen der feinen Gesellschaft und den gewöhnlichen, den kleinen Leuten, sind stets spürbar, das Klassendenken nicht zu leugnen. Und natürlich ist es der Frau Gräfin nicht recht, dass sich ihr Grafen-Sohn mit einer Schusterstochter einlässt, geschweige denn, sie ehelicht.
Alice Berend erzählt klug und gewitzt von Frau Hempels Tochter, die Neuauflage wurde moderat dem heutigen Standard angepasst. Unbedingt lesenswert ist auch das von Margret Greiner verfasste Nachwort, das dem soeben Gelesenen nochmal nachspürt und auch den Lebensweg von Alice Berend skizziert. Ein wiederentdeckter Roman, der mir kurzweilige und gar vergnügliche Lesestunden bereitet hat.