Besprechung vom 17.04.2019
Vom Ursprung der Unarten
Anselm Oelze will Darwins Kollegen Alfred Russel Wallace als Entdecker der Evolutionstheorie rehabilitieren.
Auch in Wissenschaft und Literatur gilt das harte Gesetz der natürlichen Selektion: Nur die Stärksten, Wendigsten und am besten Angepassten überleben, nicht die zarten, selbstgenügsamen Naturen mit ihren Beiß- und Schreibhemmungen. Und wer zuerst kommt, mahlt zuerst. So gilt heute Newton und nicht Leibniz als Pionier der Infinitesimalrechnung, Tesla und nicht Ferraris als Genie des Zweiphasenwechselstroms, Darwin und nicht etwa sein Zeitgenosse Alfred Russel Wallace als Vater der Evolutionstheorie. Dabei kann man über das Erstgeburtsrecht durchaus streiten. 1858 schickte Wallace seinem verehrten Kollegen Darwin einen Aufsatz mit Beobachtungen und Gedanken zur natürlichen Zuchtwahl im Tierreich; ein Jahr später erschien Darwins "Ursprung der Arten". Darwin wurde weltberühmt, Wallace ist heute allenfalls noch Wissenschaftshistorikern bekannt als Entdecker der Wallace-Linie, die im Südpazifik die australische von der asiatischen Fauna trennt.
Darwin hat seinen jungen Kollegen durchaus gewürdigt, so wie Wallace umgekehrt nie schlecht über seinen Lehrmeister sprach. Aber es gab auch schon früh den bösen Verdacht, Darwin habe Wallace schamlos plagiiert, hintergangen oder jedenfalls um den verdienten Anteil am Ruhm betrogen. Ein solcher Fall von vergangenem Unrecht schreit nach den Gesetzen des Buchmarkts und der Opfer-Idealisierung heute nach postumer Wiedergutmachung, und so reiht sich jetzt auch ein junger deutscher Schriftsteller in die gar nicht so kleine Schar der angelsächsischen Wallace-Rächer ein: Anselm Oelze, 1986 in Erfurt geboren, derzeit noch Philosophiedozent in München, aber schon mit Ideen für drei oder vier Romane ausgerüstet.
In seinem Erzähldebüt lässt Oelze Wallace späte Gerechtigkeit widerfahren: Dass nur Darwin im kollektiven Gedächtnis überlebte, verdankt sich nicht dessen Genie oder auch Infamie, sondern Wallace' sympathischer Bescheidenheit und Schüchternheit. Zwei gelehrte Laien wollen den zu spät gekommenen Naturforscher mit einem "kleinen Schubs" rehabilitieren: Oelze mit seinem Roman und darin ein Wallace-Fan mit einem gefälschten Brief. "Selbstverständlich ist dies eine wahre Geschichte", heißt das Motto. Aber so einfach funktioniert verspätete Wahrheitskonstruktion nicht.
Oelzes Roman zerfällt in zwei nicht gerade innig verzahnte Hälften. Die eine erzählt, sichtlich auf den Spuren von Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt", das Leben und Streben eines verkannten Forschers aus dem 19. Jahrhundert: autodidaktische Studien, erste Forschungsreisen ins Amazonasgebiet, herbe Rückschläge (auf der Rückfahrt von Brasilien verlor Wallace durch einen Schiffsbrand fast alle 25 000 Objekte, die er in vierjähriger Arbeit gesammelt, erforscht und beschrieben hatte), neue Expeditionen, kleine Abenteuer und Anfechtungen in den traurigen Tropen. Oelze schmückt seine brav nacherzählte Wallace-Biographie mit Joseph-Conrad-Atmosphäre, etwas zu vielen Adjektiven (der paddelnde Indianer, der dösende Molukke, "der malaiische Maat in seiner ockergelben Puffhose") und Kapitelüberschriften wie aus einem barocken Schelmenroman ("Worin der junge Bärtige in Amazonien einen Sandfloh aus seinem Fuß entfernt, ein Krokodil verspeist, auf Eingeborene trifft und sich im Urwald verläuft"). Auf die Dauer nervt dieser altväterlich-neckische Tonfall mit seinen verschnörkelten Satzgirlanden und seinen Kaskaden nutzlosen Wissens über Primzahlen und Zikaden, die Geschichte der Kartenprojektionen oder die Erfindung des Gin Tonic. Oelzes Marotte, Wallace immer nur als "der junge Bärtige" auftreten zu lassen, soll vielleicht den Gegensatz zu dem vierzehn Jahre älteren, backenbärtigen Darwin herausarbeiten.
Der Autor scheint selbst gespürt zu haben, dass seinem Helden eine bartlose "Schattenfigur" guttäte - und so stellt er ihm in der Gegenwart einen ebenso weltfremden, ehrgeiz- und glücklosen Bücherschrat zur Seite: Albrecht Bromberg, Museumsnachtwächter, Pfeifenraucher und Mitglied der Elias-Birnstiel-Gesellschaft, einer Stammtischrunde alter Besserwisser und Antiquare. Bromberg stolpert im "Museum des Verworfenen" zufällig über Wallace und vergräbt sich immer tiefer in dessen Lebensgeschichte. Sein Plan, Wallace "eine postume Nachhilfe in Sachen Glück" zu gewähren, stößt freilich auf Unverständnis. Selbst Brombergs alter Jugendfreund plädiert als erfolgreicher Banker naturgemäß dafür, der Evolution nicht ins Handwerk zu pfuschen. "Die Geschichte ist geschehen, und ich fürchte, sie ist so zu akzeptieren, wie sie geschehen ist": Was sich in der Natur bewährt, überlebt und pflanzt sich fort; was zu schwach ist, wird zu Recht ausgemerzt.
Bromberg will sich mit diesem zynischen Fatalismus nicht zufriedengeben und durch einen gefälschten Brief Darwin nachträglich moralisch und wissenschaftlich ins Unrecht setzen. Oelze macht daraus eine Art "Schtonk"-Klamotte in der scientific community und verschenkt damit nicht nur das komische Potential, sondern auch die Pointe der natürlichen Zuchtwahl durch Scheitern und Versagen. "Wallace" ist eine anekdotenselige Schnurre, aber weder eine wissenschaftshistorische Pioniertat noch ein erzählerisches Meisterwerk: Die Figuren bleiben flach und konturlos, die theoretischen Schlussfolgerungen banal. Die Geschichte der Evolution muss jedenfalls nicht neu geschrieben werden. Wie in der Natur, so entpuppen sich auch in der Literatur oft "berühmt-berüchtigte Knaller am Ende als armselige, kleine Böllerchen".
MARTIN HALTER
Anselm Oelze:
"Wallace". Roman.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2019.
263 S., geb.
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