Arno Frank hat mit seinem dritten Roman den ganz großen Wurf gewagt. Ging es in seinem ersten Buch um seine Kindheit mit einem kriminellen Vater, der, um der Polizei zu entkommen, mit der ganzen Familie durch halb Europa flüchtet, so spielt sein zweiter Roman Seemann vom Siebener an einem Sommertag in einem Freibad. Zwei ganz unterschiedliche Romane, aber beide sehr erfolgreich.
Ginsterburg - wieder etwas völlig anderes, nämlich ein historischer Roman. Auf über 400 Seiten entfaltet der Autor ein breit angelegtes Panorama vom Alltagsleben während der Nazi- Zeit.
Ginsterburg ist eine fiktive Kleinstadt, wie es viele gab in Deutschland. Im Fünf- Jahres- Rhythmus, von 1935 bis 1945, verfolgen wir die Lebenswege verschiedener Menschen.
Da ist die verwitwete Buchhändlerin Merle mit ihrem zu Beginn dreizehnjährigen Sohn Lothar, der Redakteur Eugen und seine oberflächliche Ehefrau Ursel. Dann der Blumenhändler Gürckel, der erst zum Bürgermeister und dann zum Kreisleiter aufsteigt, sowie seine Zwillingssöhne Knut und Bruno, eifrige und brutale Hitlerjungen. Zu den Hauptfiguren gesellt sich ein großes Arsenal an nicht weniger interessanten Nebenfiguren, so die regimetreue Nachbarin Grasberger mit ihrem behinderten Sohn Fritz, Smolka, ein ehemaliger Kommunist und der Papierfabrikant Jungheinrich und einige mehr.
Mit ihnen haben wir einen exemplarischen Querschnitt, an denen Arno Frank zeigen kann, wie sich die Gesellschaft wandelt. Manche sind von Beginn an begeisterte Anhänger, andere lassen sich korrumpieren, machen Karriere, viele bleiben stumme Mitläufer.
Hatte man zu Beginn noch Sympathien für manche Figuren, so legte sich das mit dem Verlauf der Lektüre. Merle, als ehemalige Sozialistin und Ehefrau eines Kommunisten enttäuscht genauso wie der ehemals kritische Zeitungsschreiber Eugen. Hoffte der noch in der Weimarer Zeit auf eine Anstellung bei der linken Weltbühne von Carl Ossietzky, so lässt ihn der angebotene Posten als Chef des Ginsterburger Anzeigers bald verstummen. Merle und Eugen flüchten stattdessen in eine heimliche Affäre.
Der sensible Lothar, der anfangs noch unfähig ist, einen Fisch zu töten ( Das lernst du schon noch! tröstet ihn Freundin Gesine), wird geködert mit seinem Traum vom Fliegen. Er wird später zu einem hochdekorierten Kampfflieger aufsteigen. Lothar sowie Eugen sind die interessantesten Charaktere im Roman, komplex und ambivalent, nicht leicht zu fassen.
Beim Fabrikanten Jungheinrich ist es nur eine Frage der Zeit, bis er von seinem Prinzip, nicht an Waffen verdienen zu wollen, abrückt.
Nein, es sind keine Helden, die Arno Frank hier porträtiert, sondern ganz normale Menschen, die in die Fänge eines verbrecherischen Systems geraten.
Die meisten Figuren sind fiktiv, bis auf wenige Ausnahmen. So hat der Kampfpilot Lothar Sieber ein historisches Vorbild gleichen Namens.
Das Thema Judenverfolgung kommt nur am Rande vor, so wie es damals von den Menschen wahrgenommen wurde. Jüdische Mitbürger verschwinden beinahe unbemerkt, ein jüdischer Zeitungsverleger stürzt sich in den Tod und der jüdische Ehemann einer Protagonistin wird zum Verhör abgeholt und nie mehr gesehen.
Dass die Protagonisten am Ende auf eine Katastrophe zusteuern, ahnt jeder Leser. Das deutet sehr offensichtlich das passende Cover an. Eine Wolke apokalyptischen Ausmaßes braut sich über einer vermeintlich idyllischen Kleinstadt zusammen. Auch das dem Roman vorangestellte Motto weist darauf hin. Arno Frank zitiert hier einen Vers aus Schillers Die Kraniche des Ibykus. In diesem Gedicht symbolisieren die Kraniche, ein durchgängiges Motiv im Roman, die göttliche Gerechtigkeit, wonach irgendwann die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden. Und finster plötzlich wird der Himmel / Und über dem Theater hin / Sieht man in schwärzlichem Gewimmel / Ein Kranichheer vorüberziehn. Das Kranichheer verweist für mich auf die anrückenden Bombengeschwader der Engländer, die Vergeltung üben für die gnadenlose Zerstörung ihrer eigenen Städte und gleichzeitig mit dazu beitragen, einen erbarmungslosen Krieg zu beenden.
Die Hölle wartet auf jene, die es verdient haben. Der Krieg aber wartet nicht. Er macht keinen Unterschied zwischen den Schuldigen und den Unschuldigen.
Arno Frank beweist mit seinem dritten Roman, dass er ganz unterschiedliche Bücher schreiben kann. Er hat nach eigenem Bekunden intensiv recherchiert, präsentiert sein Wissen aber nie aufdringlich und belehrend. Es zeigt sich stattdessen in der stimmigen Atmosphäre und wirkt sich in der Figurenzeichnung nieder.
Manches Ungeheuerliche wird in Andeutungen und Nebensätze gepackt, die der heutige Leser mit seinem Wissen über die NS-Zeit zu deuten weiß. Bei dem SS-Arzt Hansemann genügt die Bemerkung, er habe schon immer einen Hang zu abwegigen Experimenten gehabt, um zu verstehen, wo man ihn einordnen muss. Die gängige Geisteshaltung kann man auch in der Wortwahl herauslesen. So wirkt
z. B. der Begriff Ballastexistenz für einen geistig eingeschränkten Jungen für uns heute erschreckend menschenverachtend.
Die Einteilung in Fünf-Jahresschritten ist klug gewählt. Dadurch werden die Veränderungen, sowohl politisch wie auch die der Figuren, offensichtlich. 1935 hatte sich das System bereits etabliert, 1940 befand sich das Land im Siegestaumel der schnellen Eroberungen, 1945 ist das bittere Ende und der Zusammenbruch in Sicht.
Auch sonst überzeugt die literarische Umsetzung. Die Erzählstränge sind geschickt miteinander verwebt und durch die multiperspektivische Erzählweise entsteht ein äußerst lebendiges Bild jener Zeit. Dazu tragen ebenso die verschiedenen Textsorten wie Briefe, Protokolle, amtliche Verordnungen usw. bei. Sprachlich bewegt sich der Roman auf hohem Niveau, elegant, bilderstark, metaphernreich und voller Symbolik, dazu kommen unvergessliche Szenen.
Der Roman beantwortet selbst die Frage, weshalb man noch ein weiteres Buch über diese Zeit schreiben und lesen sollte, wo doch schon so viel dazu geschrieben wurde. Um uns die Augen zu öffnen für die Gegenwart, denn die Mechanismen sind immer dieselben. Obwohl Ginsterburg als historischer Roman einzuordnen ist, so ist er doch angesichts der politischen Entwicklung brandaktuell. Zeigt er doch, wie schnell sich Menschen einem autokratischen System unterwerfen. Nicht alle sofort, nicht alle ganz freiwillig, doch die meisten lernen bald, sich anzupassen, wegzuschauen, sich selbst zu belügen. Bei der Lektüre wird auch jeder auf sich selbst zurückgeworfen und beginnt sich zu fragen, wie man wohl in einer ähnlichen Situation gehandelt hätte. Das Buch sollte Eingang finden in den schulischen Kanon.
Arno Frank hat mit Ginsterburg einen herausragenden Roman geschrieben, der unbedingt auf die Nominiertenliste für den Deutschen Buchpreis gehört.