Von vornherein war ich sehr gespannt auf den Roman der in Irland geborenen Schriftstellerin Audrey Magee, die mit dem Roman "Die Kolonie" im Jahr 2022 auf der Longlist für den Booker Prize stand.Im Mittelpunkt des Geschehens stehen ein englisches Künstler namens Lloyd und ein französischer Lingust namens Masson. Ersterer ist auf der Insel eingetroffen, um zerklüftete Klippen über dem Atlantik zu malen. Überhaupt zeigt er ein sehr großes Interesse daran, mit seiner Kunst die unberührte Insel und deren Bewohner auf die Leinwand zu bringen. Masson Ist ein regelmäßig wiederkehrender Sommergast auf der Insel, der als angehender Professor unerbittlich für den Fortbestand der Irischen Sprache eintritt.Schon von deren ersten Aufeinandertreffen an spürt man deren Rivalität. Beide wollen Insel und Bewohner jeweils für sich, fühlen sich durch die Präsenz des Anderen gestört. Lloyd zieht daher in eine abgelegenere Hütte, um sich in Ruhe seiner Kunst widmen zu können.Beide stehen sinnbildlich für das Überdauern kolonialer Muster in der Gegenwart. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit geht es Beiden doch letztlich um das Besitzergreifen und die Instrumentalisierung von Insel und Bewohnern für eigene Zwecke. Während Lloyd vom endgültigen Durchbruch als Künstler träumt, sieht Masson eine blendende Karriere als Wissenschaftler vor sich, wenn es ihm gelingt, die irische Sprache vor dem endgültigen Untergang zu bewahren. Die Unterschiedlichkeit dieser beiden Protagonisten spiegelt sich auch in der sprachlichen Form wieder, was wirklich brilliant und sehr faszinierend ist: Passagen, in denen es um Lloyds Kunst geht, sind sehr krypisch, gebrochen undstichwortartig verfasst. Es sind sehr durchdacht hingeworfene Wortfetzen, die sinnbildlich für die in Planung befindlichen Kunstwerke stehen. Sie sind bruchstückhaft, wie die geplanten Kunstwerke zunächst skizzenhaft bleiben. Im Kontrast hierzu sind die Textpassagen, in denen sich alles um Masson und sein wissenschaftliches Treiben dreht, in ausufernden Fließtexten geschrieben, voller Details, so wie es sich auch für eine exzellente wissenschaftliche Arbeit gehört. In sprachlicher Hinsicht ist dies eine Meisterleistung Magees.Der Konkurrenzkampf um die Aneignung von Insel und Bewohnern manifestiert sich auch im Umgang der beiden Männer mit dem 15jährigen James, der nicht wie seine Vorfahren Fischer werden möchte, sondern auf sein Glück fern der Insel als Künstler hofft. Masson verwehrt ihm das Recht auf eine eigene Benennung, indem er ihn konsequent bei der irischen Fassung seines Namens nennt, was der Junge wiederum vehement zurückweist- jedoch vergeblich. Und Lloyd? Er ist auch wenig begeistert vom Jungen, durch den er sich beim künstlerischen Schaffen gestört sieht. Doch als James gewitzt alles daran setzt, von Lloyd das Handwerk der Kunst zu erlernen, erkennt dieser dessen Potential und gibt zunächst zähneknirschend nach. James nutzt seine Chance, und es stellt sich heraus, dass er ein sehr viel feineres Auge hat, Besonderheiten der Natur zu erfassen als Lloyd. Bald stehen Pläne für eine gemeinsame Ausstellung im Raum. Es hat den Anschein, Lloyd würde James bei der Erfüllung seines größten Traums unterstützen...Auf der Cover-Rückseite heißt es, der Roman sei eine Parabel auf den Kolonialismus. Das würde ich so deuten, dass am Agieren der beiden Männer das Überdauern des Kolonialismus nach dem Ende der Kolonien aufgezeigt wird: Koloniale Muster überleben in den Attitüden, die die Besucher ihnen gegenüber zeigen bis hin dazu, dass durch die Konflikte der beiden Herren, die in der Küche der Frauen ausgetragen werden, diese sich vertrieben fühlen. Ein Überdauern des Kolonialismus zeigt sich meines Erachtens aber auch deutlich in der Begrenzung der Handlungsoptionen der Inselbewohner insgesamt, was nicht nur, aber in der Figur James am deutlichsten wird. Auch das ist von Magee exzellent in Szene gesetzt. Vom Übergang kolonialer in postkoloniale Zeiten kann hier keine Rede sein; mitnichten handelt es sich hier um einen epochalen Wandel. Manch Experte auf dem Themengebiet des Postkolonialismus täte gut daran, den Roman aufmerksam zu lesen, damit endlich der Groschen fällt, dass Postkolonialismus eher eine schöne Utopie ist, eine Metapher für wünschenswerten Wandel und insbesondere überfällige Anerkennung der Eigenständigkeit ehemaliger Kolonien, nicht aber ein Begriff, der einen epochalen Wandel, einen Übergang in eine neue Zeit nach dem Kolonialismus indiziert. Allein dafür schon gebührt Magee größte Anerkennung des Werkes, das eine seltene Perle auf dem Literaturmarkt ist. Unbedingt lesen!!Aber keine Angst: Die Lektüre lohnt sich auch, wenn man weniger an der Kolonialismus-Kritik interessiert ist, sondern einfach "nur" eine ansprechende Lektüre sucht. Der Roman ist insgesamt sehr fesselnd und mit großem Fingerspitzengefühl und viel Empathie geschrieben. Auch andere, hier unerwähnte Figuren sind sehr wichtig für die Geschichte und für sich faszinierend beschrieben. Alles übrigens vor dem Hintergrund der "Troubles", dem Norddirland-Konflikt, dessen Brutalität durch immer neue Anschläge in die (vermeintliche) Inselidylle hineinbricht und auf der Insel trotz ihrer Abgeschiedenheit sehr präsent ist