Ginge es nicht auch ganz anders?
Wir glauben, dass Regeln und Gesetze dazu da sind, um uns und unser Zusammenleben zu schützen. Sie bewahren unsere Gesellschaften davor, im Chaos zu versinken. Wie könnten wir ohne sie Recht von Unrecht unterscheiden, in unseren Gemeinschaften gut leben und einander gute Nachbar:innen sein?
C. L. Skach sieht das anders. Ihre Karriere als Rechtswissenschaftlerin führte sie in die am stärksten zerrütteten und vom Krieg gezeichneten Ecken der Welt, wo sie Verfassungen las und schrieb, um die Gesellschaften vor Ort zu stabilisieren. Doch als sie nach einem Raketenangriff allein in einem Wohnwagen in Bagdad saß, gestand sie sich endlich ein, was sie jahrelang verdrängt hatte: Eine gute Gesellschaft kann nicht von oben verordnet werden. Sie entsteht vielmehr dadurch, dass man sich weniger auf von außen auferlegte Regeln stützt, sondern mehr aufeinander - denn jede:r ist ein essentieller Teil der Gesellschaft. Skach stellt in ihrem Buch sechs Ideen vor, die einen echten Wandel von unten nach oben bewirken und ein ganz neue, stabilere, erfüllendere und selbstwirksamere Art des Zusammenlebens ermöglichen können
Besprechung vom 16.10.2024
Wer sind die echten Bürger?
Verfassungstheoretikerin mit Skepsis gegenüber staatlicher Ordnung: Cindy Skach hegt großes Zutrauen zu einer Gesellschaft der Eigeninitiativen.
Dass das beste Gemeinwesen ohne zivilgesellschaftliches Engagement nicht funktioniert, ist keine neue Einsicht. Das gilt für den Imkerverein auf dem Dorf genauso wie für weltweit agierende Nichtregierungsorganisationen. In Deutschland existiert seit Kurzem gleich ein eigenes Forschungsinstitut für gesellschaftlichen Zusammenhalt, und die Literatur zum Thema ist überbordend - sei es, dass darin die Spaltung der Gesellschaft diagnostiziert, sei es, dass sie bestritten wird, oder sei es schließlich, dass sich darin Ratschläge finden, wie man zur besseren oder doch zumindest guten Bürgerin wird. Das neue Buch von Cindy Skach gehört zu letzterer Kategorie, der englische Titel, "How to Be a Citizen", lautet in der deutschen Ausgabe "Demokratie ohne Gesetze", und beide treffen das Anliegen der Autorin ziemlich genau.
Skach plädiert in ihrem Buch dafür, nicht darauf zu vertrauen, dass in unserem Alltag alles durch Gesetze und staatliche Vorschriften geregelt wird, sondern die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sie identifiziert sechs Handlungsfelder, zu denen sie jeweils Fallbeispiele vorstellt. Dazu zählt, spontane Eigenverantwortlichkeit wahrzunehmen, statt auf staatliche Gesetzgebung zu warten, wie sie sich nach Skachs Ansicht in der Occupy-Wall-Street- oder der Black-Lives-Matter-Bewegung realisiert haben. Dazu gehört weiter, seine Rechte verantwortungsvoll einzufordern und selbst auszuhandeln, statt sich auf das Urteil von Gerichten zu verlassen. Dass sie hier eine Aktion als vorbildlich anführt, bei der eine Gruppe von Anwohnern ausgerechnet ein Gericht anruft, um sich gegen die Bebauung einer Brachfläche mit Sozialwohnungen zur Wehr zu setzen und stattdessen den Platz als eine Art öffentlichen Dorfanger zu nutzen, steht allerdings in offenem Gegensatz zu ihrem Credo, dass lokale Angelegenheiten durch die Beteiligten vor Ort ausgehandelt werden sollten.
"Mehr Zeit auf einer Piazza verbringen", heißt ein weiteres Kapitel, in dem sie die Metapher der Piazza für öffentliche Orte überschaubarer Größe einführt, an denen sich Menschen persönlich begegnen und gemeinsame Aktivitäten unternehmen. Das kann der Friseurbesuch sein oder eine gemeinsame Graffitiaktion. Schließlich darf auch bei Skach das Urban Gardening nicht fehlen, bei ihr nobilitiert durch den direkten Zusammenhang, der darin angeblich zwischen Selbstversorgung und Bürgerrechten sichtbar wird.
All die zugrunde liegenden Eigenschaften wie Solidarität, Kreativität und Empathie sollen möglichst von Kindesbeinen an vermittelt werden. Beeindruckend, dass Skach in all den entsprechenden Projekten, die sie besucht hat, offenbar ausschließlich kooperative kleine Staatsbürger angetroffen hat, die im gemeinsamen Schaffen ihre eigene Ordnung entwickeln, und keine kleinen Racker, die sich gelegentlich mit dem Sandschäufelchen eine überbraten.
Gegen Skachs Gesellschaft der Eigeninitiative ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Dass sich Menschen gegen systematische sexuelle Übergriffe oder rassistische Benachteiligung wehren, ist überfällig. Und wer hätte schließlich etwas gegen bessere Kindergärten, begrünte Hinterhöfe oder den Stadtteilflohmarkt? Skeptisch stimmt einen dagegen Skachs fast durchgängige Schelte von Recht und staatlicher Ordnung. Dazu muss man wissen: Skach ist Politikwissenschaftlerin und Verfassungstheoretikerin, in deren Lebenslauf sich Positionen an Universitäten wie Harvard, Oxford oder Bologna finden, und ausweislich ihrer eigenen Darstellung hat sie Regierungen in aller Welt in Verfassungsfragen beraten.
Schilderungen solcher Missionen in fernen Weltgegenden durchziehen das Buch. Als entscheidend für ihren Gesinnungswandel beschreibt sie ein Ereignis in Bagdad im Herbst 2008. Dabei geriet ihre Delegation in einen Raketenangriff, und während sie mit kugelsicherer Weste und Notfallbeutel auf Rettung wartete, begann sie offenbar, die Sinnhaftigkeit ihres Tuns zu hinterfragen. In dem gepanzerten Fahrzeug, das sie schließlich zum Flughafen in Bagdad brachte, dann die entscheidende Einsicht: "dass Verfassungen - und Regeln im Allgemeinen - den Keim zur Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung in sich tragen können". Von welcher gesellschaftlichen Ordnung sollte hier die Rede sein?
Die Problematik des Buches liegt nicht darin, dass Skachs Vorschläge kaum über das bekannte Repertoire der Zivilgesellschafts-Ratgeberliteratur hinauskommen. Auch nicht, dass sich darunter die eine oder andere Vision befindet, die dann doch etwas realitätsfern anmutet. Etwa die der "solarbetriebenen Flachbildschirme". Skach teilt die Überzeugung, dass Legitimität für schwierige gesellschaftspolitische Entscheidungen nur durch öffentliche Debatten geschaffen werden kann. Dem steht, auch dies eine weithin beklagte Schwierigkeit, die Zersplitterung des öffentlichen Diskurses in den sozialen Medien entgegen.
Schließlich fällt, wie Skach bedauert, die Tageszeitung als gemeinsame Wissensquelle zunehmend aus. Also schlägt sie vor, "das Bildungsniveau der Gesellschaft durch Alphabetisierungs- und Informationskampagnen" zu erhöhen, "sodass gewöhnliche Menschen in die Lage versetzt werden, Probleme selbständig zu durchdenken, und nicht das Narrativ der gesellschaftlichen Elite ungefragt übernehmen". Hierfür eben die öffentlichen Bildschirme, auf denen "Informationen aus verschiedenen Quellen angezeigt werden".
Hier, wie durchweg in dem Buch, bleibt unklar, wer die Akteure sind und wie die Entscheidungsprozesse ablaufen sollen. Im Zweifelsfall ist es ein undefiniertes "Wir", "echte Bürger" in einer "echten Zivilgesellschaft". Bei den meisten genannten Beispielen handelt es sich um Gruppen von überschaubarer Größe. An einer Stelle führt Skach die evolutionspsychologische Erkenntnis an, dass Menschen am besten in sozialen Gefügen von bis zu 150 Gruppenmitgliedern funktionieren. Dabei ist noch nichts über die Homogenität oder das Maß an möglicher Diversität innerhalb dieser Gruppe gesagt. Zur Frage der Skalierung schon in einer mittelgroßen Stadt, geschweige denn in einem von unterschiedlichen kulturellen Herkünften geprägten Staat schweigt sich Skach jedoch aus.
Das Buch ist von dem Optimismus durchzogen, dass Menschen "unter den richtigen Bedingungen die richtige Ordnung etablieren" werden und "die eigenen Rechte - verantwortungsvoll - einfordern". Immerhin plädiert Skach nicht ausdrücklich dafür, "Grundrechte oder Verfassungen generell abzuschaffen", schränkt allerdings ein: "vielleicht eines Tages, aber erst in ferner Zukunft". Wiederholt beklagt sie, dass das moderne Recht an Autorität gebunden sei. Wie die Durchsetzung von Rechten, deren Existenz sie jederzeit voraussetzt, ohne eine entsprechende Institution funktionieren soll, ist ihr jedoch keiner Überlegung wert. SONJA ASAL
C. L. Skach: "Demokratie ohne Gesetze". Warum nicht Regeln, sondern wir selbst unsere Gesellschaft tragen.
Aus dem Englischen von Oliver Lingner. Ullstein Verlag, Berlin 2024. 256 S., geb.
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