Dies ist die Geschichte von Marie Marguerite Bihéron (1719-1795) und Madeleine Françoise Basseporte (1701-1780). Historisch verbürgt ist das Werk der beiden Frauen, ihre (wahrscheinliche) Liebesbeziehung zueinander gibt dem wunderbaren Roman eine feine romantische Ader.
In schönen Worten, und vor allem herrlichen Bildern, erzählt uns die Autorin über das Leben der beiden Frauen, die sich abseits der gesellschaftlichen und vor allem sehr patriarchalischen Normen jeweils in ihrem Fach behaupteten.
Marie Bihéron war von der Anatomie der Lebewesen, vor allem der Menschen, von klein auf sehr interessiert. Gleich zu Beginn des Buches lernen wir die zwölfjährige Marie kennen, wie sie 1733 in der Nacht im Schutz der nahen Pariser Bastille zu einer Kaserne der Schwarzen Musketiere geht, dort eindringt und nach einer Leiche fragt, um diese zu sezieren. In ihrem weiteren Leben erreicht sie über die Grenzen Frankreichs hinweg Berühmtheit mit ihren in Wachs gegossenen, sehr lebensecht gestalteten Modelle von menschlichen Organen. Großabnehmerin und Gönnerin war Marie Antoinette.
Die Geschichte beginnt mit dem jungen Mädchen, aus dessen Sicht erzählt wird, und sie endet mit der Greisin Bihéron, in und nach den Wirren der Französischen Revolution. Allerdings sind die letzten Jahre der Frau reine Fiktion, denn die Aufzeichnungen enden in den 1780er Jahren.
Madeleine Basseporte war eine angesehene Zeichnerin von Blumen, auch lehrte sie das Zeichnen. In beider Umfeld kommen Persönlichkeiten wie zum Beispiel Diderot vor, die mit ihrem Lebensstil und philosophischen Ansätzen ihren Beitrag zur Geschichte (fiktional wie historisch) leisteten.
Soweit die (harten, historischen) Fakten zu diesem Buch. ABER! Es ist kein historischer Roman, der sich nur auf die Begebenheiten fokussiert. Was Christine Wunnicke uns hier mit Bravour vorstellt ist der Zeitgeist des achtzehnten Jahrhunderts. Sie versteht es gekonnt, ihre Leser*innen durch jene Welt zu führen, die als Absolutismus und Ancien Régime in die Geschichtsbücher eingegangen ist bis hinüber in die Zeit der Revolution, als der Guillotine mit Begeisterung gefrönt wurde.
Wir finden uns wieder in den Gassen, in den verarmten Haushalten, in vor Schmutz, Fäkalien und Unrat starrenden Straßenzügen von Paris, wo jede*r seinen persönlichen Kampf ums Überleben mit Einfallsreichtum führen muss. Plastisch, realistisch. Man sieht die Szenen vor dem inneren Auge und glaubt beinahe, die Ausdünstungen zu riechen (muss tatsächlich sehr schlimm gewesen sein, jenseits unserer Vorstellungskraft)
Die Beziehung der beiden Frauen zueinander steht im Buch eigentlich immer im Hintergrund, wird versteckt (auch wenn sich der Roman im Klappentext als Liebesgeschichte outet), wie sich auch die beiden Frauen in ihrer Zuneigung vor der Öffentlichkeit verstecken mussten.
Wunnicke skizziert äußerst lebendig das Leben der beiden Frauen, die ein Beispiel dafür sind, wie man es mit Gewitztheit und der nötigen Portion Hartnäckigkeit schafft, seine Träume und Ziele nicht nur zu verfolgen, sondern auch zu erreichen.
Das Büchlein mit seinen nicht mal 190 Seiten ist ein historisches Spektakel mit so viel Inhalt in und zwischen den Zeilen, das sich vor den übergroßen Wälzern nicht zu verstecken braucht. Ganz im Gegenteil in der Kürze liegt hier mehr als Würze (auch im beschriebenen olfaktorischen Sinne).
Wunnicke ist hier (wieder) ein sehr eindrückliches Werk gelungen, das den eigenen Horizont erweitert, historische Fakten gekonnt mit etwas Fiktion vermischt. Und vor allem: hätten wir sonst von diesen beiden starken, kreativen Frauen je etwas erfahren, oder wären sie in den Einträgen der Geschichte in Vergessenheit geraten?
Ganz große Leseempfehlung für diesen herrlichen, unterhaltsamen wie informativen, und vor allem flüssig zu lesenden historischen Roman.
Empfehlen möchte ich auch den Roman Die Dame mit der bemalten Hand der Autorin, der es 2020 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat und mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet wurde.