Besprechung vom 23.05.2024
Die Liebe, zwanzig Jahre später
Zurück nach Irland: Colm Tóibín setzt seinen Roman "Brooklyn" fort und gibt dabei einer betrogenen Ehefrau eine zweite Chance.
Eines Sommertages steht ein Fremder vor dem Haus, in dem Eilis mit ihrem Mann Tony und den beiden Kindern wohnt. Der Fremde erzählt von der Schwangerschaft seiner Frau, das Kind sei aber nicht von ihm gezeugt, sondern von Tony. Nach der Geburt werde er deshalb zurückkommen und den Säugling vor Eilis' Haustür legen. Fürs Erste verschwindet er, lässt allerdings durchblicken, dass er über Tonys Leben Bescheid weiß: "Ihr Mann scheint ein großer Plauderer zu sein", sagt er zu Eilis. "Er hat meiner Frau lang und breit von Ihnen erzählt."
So rasant wie Colm Tóibíns neuer Roman "Long Island" einsetzt, so sehr das jähe Aufeinandertreffen der beiden von ihren Partnern betrogenen Menschen wenigstens für Eilis alles verändert, so leicht könnte man diese beiläufige Bemerkung des gehörnten Ehemanns über den schwatzhaften Ehebrecher überlesen. Dabei ist sie der erste Hinweis auf ein Thema, das den Roman prägt wie kein zweites. Es geht ums Sprechen und ums Schweigen, ums Vertuschen und ums Aufdecken und um die Mittel, die dafür eingesetzt werden. Kaum zufällig fällt die Romanhandlung in die Zeit der Watergate-Affäre, auf die einmal kurz angespielt wird. Vom Belauschen, von Lügen und Ausflüchten verstehen jedenfalls auch die Romanfiguren etwas.
Im Licht der gesamten Handlung erscheint die Eingangsszene als leichthändig erzählte, überlegen komponierte Ouvertüre zu einem Roman, der die längst in New York heimische Mittvierzigerin Eilis zurück nach Irland führt, an den küstennahen Ort Enniscorthy, von dem sie als junge Frau aufgebrochen war und in dem ihre bald achtzigjährige Mutter lebt. Wie sehr sie dort von Gerede umgeben ist, wie viel dort gesagt wird und dass sie das Wesentliche erst erfährt, als es eigentlich schon zu spät dafür ist, überlagert am Ende jede andere Erfahrung dieser Reise.
In New York wohnen Eilis und Tony mit ihren Kindern Larry und Rosella Tür an Tür mit zwei von Tonys Geschwistern samt deren Familien und den Eltern. Es ist Tonys Mutter Francesca, die sich zu Beginn des Romans ahnungslos gibt, als der Fremde von Haus zu Haus geht und nach Eilis fragt, obwohl die Patriarchin längst nicht nur über den Ehebruch ihres Sohnes und die Folgen Bescheid weiß, sondern auch schon geplant hat, was mit dem Kind nach der Geburt geschehen wird. Es ist diese unter Lächeln und Fürsorge verborgene Kontrolle, der Eilis Richtung Irland entflieht - ob und wann sie nach New York zurückkehren wird, lässt sie offen.
Auch dass sie zwanzig Jahre zuvor bei einem Besuch in Enniscorthy heftig mit dem Pubbesitzer Jim Farrell geflirtet hatte, erfährt ihre Familie nicht, so wie auch Jim damals nicht wusste, dass Eilis in New York bereits mit dem italienischstämmigen Tony verheiratet war - diesen Sommer und Eilis' jähe Abreise zurück nach New York beschreibt Tóibín in seinem Roman "Brooklyn" von 2009. Er hat Spuren hinterlassen, in allen Beteiligten, vor allem aber in Jim, der es mit Eilis sehr ernst meinte und kein Wort von ihr zu hören bekam, warum sie ihn Knall auf Fall verließ.
Nun ist sie wieder da. Nur dass die Konstellation - betrogene Ehefrau fährt enttäuscht an den idyllischen Ort ihrer Kindheit und trifft ihre damals tragisch verpasste Jugendliebe wieder -, die unendlich vielen Unterhaltungsromanen zugrunde liegt, hier mit herber Würde durchgespielt wird, gerade weil sie Raum lässt für ganz andere Fragen. Jim ist auf seine träge Art heimlich mit Nancy zusammen, einst Eilis' beste Freundin, Witwe und Betreiberin des örtlichen Fish-&-Chips-Imbisses. Eilis weiß nichts davon, und als ihre Kinder ihr hinterherreisen, bringen ihre arglosen Indiskretionen die Handlung weiter voran, während sich der allseits beliebte Jim im Verborgenen mit beiden Frauen trifft und noch die nötigste Entscheidung über seine Zukunft anderen überlässt - so lange, bis schließlich wiederum Nancy das Aufdecken als Strategie einsetzt, sich selbst einen Verlobungsring an den Finger steckt und, danach gefragt, bereitwillig von ihrer nun nicht mehr heimlichen Liaison spricht, um Fakten zu schaffen.
"Das sähe dir nicht ähnlich, wem auch immer was auch immer zu erzählen", sagt dagegen Eilis zu Jim. Wo das Plaudern so leicht und das ernsthafte Sprechen so schwer ist, da ist die Hürde besonders hoch, wenn es um die Liebe geht. "Darf ich dich fragen, ob du mich liebst?", sagt der vorsichtige Jim. Eilis' Antwort "Deswegen bin ich doch hier" reicht ihm nicht, verständlicherweise, denn als sie vor zwanzig Jahren das letzte Mal "hier" war, endete das Beisammensein auf eine Weise, die in der schieren Anwesenheit noch keinen Liebesbeweis garantiert. "Kannst du es sagen?", beharrt er, aber aussprechen mag sie es immer noch nicht. "Ja, kann ich", antwortet sie stattdessen. Näher kommt sie in diesem Buch einer Liebeserklärung nicht. Immerhin verspricht sie ihm, diesmal keine "kalten Füße zu bekommen". Es ist Jim, der schließlich dasteht wie Buridans Esel.
"Die bekommen hier alles mit", seufzt Eilis' New Yorker Schwägerin Lena einmal. In Enniscorthy ist es nicht anders. Doch obwohl sie es eigentlich besser wissen müssten, glauben alle immer, sie könnten irgendetwas vor ihrer Umgebung verborgen halten, was zugleich heißt, dass alle großen Auftritte, bei denen irgendetwas bekannt gegeben wird, etwas leicht Lächerliches haben. "Es war komisch, Nancy zuzuhören", sagt Eilis' Mutter, nachdem Nancy ihre Tour durch die Gemeinde zur Verkündigung ihres Verlöbnisses beendet hatte, zu ihrer Tochter. "Natürlich wusste ich über sie und Jim längst Bescheid." Natürlich, wie eigentlich alle. Nur Eilis eben nicht.
Unter all diesen Strategen auf dem Schlachtfeld von gezielten Informationen und Desinformationen erweist sich der Autor als der größte und effizienteste. Er lässt seine Figuren auf- und abtreten, ohne ihre Geheimnisse preiszugeben (besonders die Liebesszenen sind von seltener Diskretion) und stellt zugleich das Netz ihrer Kommunikation mit größter Genauigkeit dar. Man folgt ihm gern und akzeptiert, dass der Zauber dieser Geschichte aus ihren Leerstellen erwächst. Mag sein, dass der bald siebzigjährige Colm Tóibín hier die Summe seiner Erfahrungen zieht. TILMAN SPRECKELSEN
Colm Tóibín: "Long Island". Roman.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, München 2024.
320 S., geb.
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