Besprechung vom 25.11.2023
Wenn die Gondeln Trauer tragen
Wie unbeständig doch die Welt ist: Daniel Schreiber flaniert durch Venedig und fragt sich, wie mit Verlusten umzugehen sei.
Von Kai Spanke
Es ist müßig, daran zu erinnern, dass die Form eines Texts genauso wichtig ist wie sein Inhalt. Daniel Schreiber weiß das und setzt auf Leitmotive und Wiederholungen: "Nachdem wir aufgelegt hatten, ging ich auf meine Terrasse und zündete mir eine Zigarette an"; "Ich atme den Zigarettenrauch ein und wieder aus"; "Halb bewusst, halb unbewusst zünde ich mir eine Zigarette an"; "Schuldbewusst trete ich meine nur halb aufgerauchte Zigarette auf dem Steinboden aus"; "Ich zünde mir die Zigarette an, ziehe an ihr". Bei diesem Kippenumsatz denkt man an die erzählten Welten von Judith Hermann, dabei soll "Die Zeit der Verluste" doch ein Sachbuch sein.
Der Autor, dessen Bestseller "Allein" vor zwei Jahren oft und hoch gelobt wurde, hält sich in Venedig auf, flaniert von A nach B, trifft Leute und fragt sich, wie man die Unbeständigkeit der Welt verkraften kann. Er berichtet von der Trauer um seinen an Krebs verstorbenen Vater, denkt über Klima und Totalitarismus, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie nach. Gerne ergebnisoffen, gerne assoziativ. Mehr als ein Dutzend Mal lesen wir die Formulierung "Ich frage mich"; fast genauso häufig betont Schreiber, er sei überrascht, etwa vom "Schmerz, wenn man mit nackten Füßen versucht, über die Stoppeln eines abgeernteten Weizen- oder Gerstenfeldes zu laufen".
"Schmerz" gehört zu seinen Lieblingsworten, ein anderes ist "vielleicht"; er benutzt es immer dann, wenn er einen Gedanken an-, aber nicht zu Ende denkt: "Vielleicht liegt darin neben dem Schmerz auch eine merkwürdige Form von Trost: Mit Tod und Vergänglichkeit lässt sich nicht verhandeln." Diese Kalenderblatt- und Empfindsamkeitsprosa kollidiert mit solchen Behauptungen: "Unsere Psyche beschützt uns davor, den Tod geliebter Menschen zu verstehen. Sie erlaubt uns nur, im Laufe der Zeit unserem Nichtverstehen etwas näher zu kommen und es so in unser Leben zu integrieren." Gilt das wirklich für uns alle? Oder doch vor allem für Schreiber? Was heißt hier eigentlich "verstehen"? Und hat er, der Literaturwissenschaftler, das erforscht, oder handelt es sich um einen Befund von Psychologen?
Das erzählende Sachbuch ist seit Jahren ein gefragtes Genre, das sich seinen Gegenständen mitunter in protoliterarischer Form nähert, mit Sprachschmuck, einem narrativen Bogen oder in essayistischer Gestalt. Die oft subjektive Haltung führt in manchen Fällen zu unerwarteten Ideen, die eine systematische Abhandlung nicht zulassen würde. Häufig jedoch konzentrieren sich Autoren dieses Genres auf banale Erlebnisse und das, was ihnen so in den Sinn kommt.
Mal fällt Schreiber ein Traum aus Kindertagen ein, dann entsinnt er sich des Schals, den er vor anderthalb Jahren verloren hat - oder er zitiert Bücher verschiedener Autoren. Judith Butler, um nur ein Beispiel zu nennen, habe die Hierarchien von Tod und Trauer erörtert, und genau diese Hierarchien scheinen dem Autor bei einer Friedhofsbegehung "in den kleinen viktorianisch anmutenden Bauten Stein geworden zu sein".
"Die Zeit der Verluste" ist am besten, wenn Schreiber Gespräche mit seinem Vater schildert, denn dann sagt er, ohne sich hinter poetischem Schnickschnack und bemühter Schmalspurphilosophie zu verschanzen, was der Fall war. Die mit diesem Verfahren erzeugte Unmittelbarkeit hätte dem ganzen Buch gutgetan. Das macht sich besonders bemerkbar, sobald wir auf ästhetischem Terrain unterwegs sind. Fiktionale "Apokalypse-Erzählungen" würden so tun, als könnten sie etwas vorhersagen, "was sich nicht vorhersagen lässt". Obwohl Phantasie und Wissen in sie hineinfließen, seien sie "von einem grundsätzlichen Scheitern der Vorstellungskraft geprägt". Wer so spricht, unterstellt, Romane oder Filme dienten der Aufklärung. Warum die Imagination scheitert, erläutert Schreiber nicht. Dass er aber Literatur auf eine Seismographenfunktion reduziert, sie als Spekulationsinstrument und Teil der Zukunftsforschung betrachtet, zeigt, welch dürftiges Kunstverständnis auch unter Philologen zuweilen herrscht.
Dann steht Schreiber jedoch im Museum, bestaunt ein Gemälde Tiepolos und sagt: "Man muss die Geschichte, die darin anklingt, nicht kennen, um sich von seiner berauschenden Wirkung erfassen zu lassen." Die Kunst als Raum eigenen Rechts, jenseits von Bedeutung auf die Sinne zielend - damit war nach dem Plädoyer für eine engagierte Ästhetik nicht zu rechnen. Apropos Sinne. Falls Sie sich fragen, was in Venedig aufgetischt wird: "Crudités aus Möhren, Fenchel, Kohlrabi und grünem Spargel, die mit Salbeiöl besprüht werden", außerdem "gegrillter Tintenfisch mit Wachtelbohnen-Püree und kurz geschmortem Treviso-Radicchio und dann eine gebratene Seezunge mit Polenta und Broccolo Fiolaro". So geht's dahin im erzählenden Sachbuch.
Daniel Schreiber: "Die Zeit der Verluste".
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2023. 144 S., geb.
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