Messerscharfe Geschichten über die Zerbrechlichkeit der männlichen Seele
Zwei Brüder, die ihren volltrunkenen Vater bei einem gemeinsamen Zirkusbesuch in die Manege stolpern sehen, wo er sich als Freiwilliger vor dem johlenden Publikum zersägen lassen will. Ein Mann, der sich beim Aussortieren alter Klamotten in seinem ehemaligen Kinderzimmer an den Tag erinnert, an dem er als Siebzehnjähriger seine schwangere Freundin zu einer Abtreibung in die Frauenklinik begleitete: Der Tag des Abschieds aus dem Land der Jungen. Krusovszky zeigt jene Kippmomente im Leben seiner Figuren, wie Scham neben Liebe steht, Verzweiflung und Trauer neben Gewalt, Spott neben Stolz. Dabei schlüpft der Autor versiert in immer neue Erzählerrollen und entwickelt einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Übersetzt von Terézia Mora.
Besprechung vom 06.07.2024
Gefährdete und andere gefährdende Männlichkeit
Dénes Krusovszkys ungarischer Erzählungsband "Das Land der Jungen", übersetzt von Terézia Mora
Ein roter Faden, der die Erzählungen eines Buchs miteinander verbindet, kommt vielen Lesern und wohl auch Verlagen entgegen: Muss man den seiner Form wegen beliebteren Roman schon missen, so liefert der rote Faden doch einen Zusammenhang der einzelnen Geschichten, einen Kern, vielleicht eine Entwicklung: der Erzählungsband als komponierte Einheit oder gar Gesamtkunstwerk wie einst Langspielplatten in Zeiten vor dem Streaming. Solch ein Konzept deutet schon der Titel des Sammelbandes von Dénes Krusovszky an: "Das Land der Jungen". Der 1982 geborene Autor gehört zu jener Generation der ungarischen Literatur, die bisher im Schatten der großen alten Männer Imre Kertész, Péter Esterházy, Péter Nádas und László Krasznahorkai steht. Angefangen hat er als Lyriker, 2017 erschien der Erzählungsband, inzwischen liegt auch ein fünfhundertseitiger Roman von Krusovszky vor.
Das titelgebende "Land der Jungen" ist Ungarn, und seine Jungen sind durchweg männlich, jedoch nicht nur jung. Die Hauptpersonen der von Terézia Mora mit Eleganz übertragenen Geschichten altern mit fortschreitender Seitenzahl; vom Schüler über den seit Jahren verheirateten Fotografen bis zum Tischlermeister in den besten Jahren sind fast alle Lebensalter vertreten. Nur die letzte Erzählung spielt im neunzehnten Jahrhundert, alle anderen sind in naher Vergangenheit angesiedelt.
Die Protagonisten verbindet eine gewisse Isolation und Kommunikationsunwilligkeit. Anderen Menschen vertrauen sie sich auch dann nicht an, wenn sich die Lage unangenehm zuspitzt. Die Einzelgänger versuchen zurechtzukommen und sind um allerlei Erklärungen für ihr Tun nicht verlegen. Nur stehen sie am Ende doch vor einem Scherbenhaufen. Krusovszky schildert keine toxische, sondern eine gefährdete und andere gefährdende Männlichkeit, wie sie nicht nur im Orbán-Ungarn, sondern auch im übrigen Europa anzutreffen ist.
Alle Geschichten erzählen unaufgeregt von dramatischen Ereignissen: Ein Scheidungskind befürchtet im Zirkus, dass sein betrunkener Vater bei einem Zaubertrick entzweigesägt wird; ein Waisenjunge schließt beim Fahrradfahren auf einer viel befahrenen Straße die Augen, nachdem er den sittenstrengen Onkel mit einer Prostituierten gesehen hat; ein ungarischer Student ermutigt seinen jungfräulichen arabischen Zimmergenossen in Prag zu sexueller Offensivität, was zu einer Vergewaltigung führt; nach den Aufnahmen einer an häuslichen Abgasen erstickten Kleinfamilie fährt ein Polizeifotograf zu seiner Frau, fotografiert die wie eine Tote Schlafende, bekommt eine Erektion und beschließt, Brotberuf, erkaltete kinderlose Ehe und Vororthäuschen zu verlassen, um wieder als Künstler zu arbeiten.
Auch wenn es in den Geschichten bisweilen ungewöhnlicher zugeht, bleibt der Ton gemäßigt. Auf den Wunsch eines alten Fürsten hin kleidet ein erfahrener Tischlermeister eine Kapelle mit Menschenknochen aus, selbst ein Kronleuchter entsteht aus dem heiklen Material. Das Ossarium sei ein "Denkmal des Todes und des Lebens", wird sein Erbauer nicht müde zu behaupten. Doch die Arbeit am Denkmal hat ihn seiner Frau und anderen Menschen entfremdet, sein Leben scheint ebenso wie das des Fürsten vorüber zu sein.
Es "scheint" so zu sein, weil Krusovszky die existenziellen Erschütterungen am Ende der Erzählungen lediglich andeutet. Im Tischlermeister keimt der Verdacht, dass die Nacht um ihn für immer andauern werde; der Schüler wird vom Opa aus dem Zirkuszelt getragen, während sein in einer Kiste liegender Vater unter der Säge zu brüllen beginnt; von der Vergewaltigung einer jungen Frau wird nicht gesprochen, nur entsetzt von etwas, "was er gemacht, was er Nastja angetan hat". Und dann enden die Erzählungen.
Das Geschehen vor dem angedeuteten Aplomb wird meist in einer großen Rückblende erzählt: Die Betroffenen erinnern sich detailliert, was vor dem befürchteten Zersägen des Vaters, vor dem Aufprall auf ein Auto, vor der mutmaßlichen Vergewaltigung geschehen ist. Sie bemühen sich um Ruhe und Kontinuität, sie vergewissern sich. Mit einiger Kunstfertigkeit und klassisch anmutender Mäßigung zeigt Krusovszky das Erzählen als Versuch der Selbstermächtigung und -rechtfertigung. Letztlich bleibt es hilflos - der Wendepunkt, die Katastrophe ist nicht aufzuhalten und auch nicht zu verstehen. Dass fast alle Erzählungen auf sie zulaufen, lässt das Buch geschlossen wirken, allerdings auch - Preis des Konzeptes - recht gleichförmig.
Weil die Titelerzählung ein wenig anders endet, ist sie die beste des Bandes: Kurz vor der Hochzeit besucht ein junger Mann die Eltern und stößt in Papiertüten mit seinen alten Sachen auf eine Samthose. Sie löst einen Strom von Erinnerungen aus an eine Jugendliebe und eine traumatische Abtreibung, die die Liebenden einander entfremdete. Geschickt lässt Krusovszky die Zeitebenen ineinander gleiten und den Protagonisten einer übermächtigen Vergangenheit erliegen, bis dieser schließlich die samtige Madeleine wieder in der Tüte vergräbt und der Mutter zuruft, sie könne alles zum Roten Kreuz bringen. Noch Befreiungsversuche sehen bei Dénes Krusovszky aus wie kraftlose Wegwerfgesten. JÖRG PLATH
Dénes Krusovszky:
"Das Land der Jungen".
Erzählungen.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024.
264 S., geb.
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