»Ich habe mich von deinem Vater befreit und dachte, jetzt wird alles besser. « Édouard Louis kehrt zur Geschichte seiner Mutter zurück. Zu einer Frau, die sich schon einmal befreit hat. Von Alkohol, Gewalt und Scham, vom Schweigen. Und deren Geschichte sich zu wiederholen droht, als sie eines Nachts den Sohn anruft, während ihr neuer Partner sie im Hintergrund rüde beschimpft. Schritt für Schritt plant der Sohn mit ihr den Ausbruch, ein neuer Anfang gelingt, aber wie geht das Leben weiter, wenn man Freiheit nie gelernt hat?
»Monique bricht aus« ist ein einfühlsames und zartes Porträt einer Mutter, die für ihre Selbstbestimmung kämpft, und eines Sohnes, der sich mit ihr verbündet. Zweier Menschen, die sich einander annähern und behutsam beginnen, eine gemeinsame neue Geschichte zu schreiben.
»Frankreichs größte literarische Sensation. « The New York Times
Besprechung vom 26.01.2025
Was kostet ein Leben in Freiheit?
In seinem neuen Buch erzählt der französische Starautor Édouard Louis vom zweiten Neubeginn seiner Mutter: "Monique bricht aus" beziffert auch die Kosten der Emanzipation einer Frau.
Die Autoren und Freunde Didier Eribon und Édouard Louis bestimmen aus deutscher Perspektive die intellektuelle Szene Frankreichs von heute. Beide haben Bestseller geschrieben, in denen sie ihre arme, bildungsferne Herkunft zum Musterfall sozialer Konflikte erklärten. Beide haben dabei über ihre Mütter geschrieben, Didier Eribon erst im vergangenen Frühjahr ("Eine Arbeiterin") wieder, Édouard Louis 2021 in "Die Freiheit einer Frau" und jetzt in seinem neuen Buch.
"Monique bricht aus" erscheint in einem Moment, da die Welt auf eine andere Frau und Mutter aus Frankreich schaut: Gisèle Pelicot, die auch ausgebrochen ist aus der Gewalt, die ihr eigener Mann und siebzig weitere Männer ihr angetan haben (siehe Seite 35 dieses Feuilletons). Édouards Mutter Monique verlässt zum zweiten Mal in ihrem Leben einen gewalttätigen Mann: Wie Klassenverhältnisse und sexualisierte Gewalt miteinander zusammenhängen, das ist die eine Frage, die sich ihr Sohn stellt.
Die andere Frage lautet: Wird sie es schaffen? Wird Monique, nachdem sie erst ihren brutalen Ehemann und ihr Dorf im französischen Norden verlassen hat, den gewalttätigen Alkoholiker ebenfalls verlassen, mit dem sie ein neues Leben in Paris beginnen wollte? Auch dieser neue Mann hat Monique wieder beschimpft und gedemütigt und herabgewürdigt. Bis sie es nicht mehr aushielt, eines Abends vor vier Jahren.
Das Buch erzählt, was jetzt folgt, minutiös, fast spannend, beginnend mit diesem Anruf der Mutter, "es geht wieder los, es geht wieder von vorne los", sagt sie ihrem Sohn ins Telefon. "Zum Zeitpunkt des Anrufs war ich achtundzwanzig Jahre alt und hatte sie in meinem Leben vielleicht drei- oder viermal weinen hören", schreibt Louis, der gerade mit einem Stipendium in Athen ist und jetzt von dort aus die Flucht seiner Mutter organisiert: Lieferdienste, Wohnungssuche, Möbelkauf. Drei- oder viermal Weinen in all der Zeit: Das bemisst die Distanz und das angespannte Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Eine der wenigen Stellen im Buch, in denen Louis Szenen, die ihm so bedeutsam vorkommen, dass er sie herauspräpariert, nicht selbst ausdeutet.
"Mit über fünfzig Jahren", schreibt er über Monique, da bestellen sie ihr gerade etwas beim Libanesen, "hatte sie manches Essen noch nie probiert, manche Gewürze noch nie geschmeckt, eine Art kulinarische und geschmackliche Entrechtung." Dieser spezielle Mix - erst die szenische Prosa, zu deren stilisierter Einsilbigkeit auch gehört, dass Dialoge selten Anführungsstriche haben, dann eine schlagartig ausformulierte Erkenntnis - prägt das Schreiben Édouard Louis'. Dieser Sound hat ihn weltberühmt gemacht, damit hat er seine eigene Lebens- und Aufstiegsgeschichte zum Fall gemacht, ein schwuler junger Franzose, der als erster seiner Familie auf eine höhere Schule geht und von dort immer weiter nach oben. Wie peinlich genau er von Scham und Armut erzählt, hatte seine Mutter kaum verkraftet, auch das ist ein Leitmotiv dieses Buchs.
Dass dessen Stil so leise ist, verstärkt den Eindruck, dass sich offenbar aus jeder Szene im Leben dieser Familie eine Erkenntnis ableiten lässt, oft aber ist die dann wirklich global: Die Mutter hat den jungen Louis regelmäßig angebrüllt, er solle nicht den Kühlschrank leer fressen. Der empfand das jedes Mal als Angriff - und versteht erst später, dass arme Menschen wirklich nichts mehr haben, wenn sie nichts mehr haben:
"Das ist etwas, was Angehörige der privilegierten Klassen nicht verstehen können, denn wenn sie sagen, dass sie nichts mehr haben, haben sie trotzdem immer noch etwas
sie haben immer noch ihren Uniabschluss
sie haben immer noch ihre Bildung
sie haben immer noch Kleingeld
sie haben immer noch Leute, die ihnen helfen
sie haben immer noch die Willensstärke, die auf Privilegien beruht."
Diese Sätze hat Louis ohne Komma aufgelistet, vielleicht ein Überbleibsel seiner verworfenen Idee, die Geschichte als Rechnung zu formatieren, er zählt die Kosten des Auszugs und Neubeginns seiner Mutter aber doch auf: "Kühlschrank: 500 Euro, Gasherd: 300 Euro, Taxi für die Flucht: 15 Euro, Kaution für die Wohnung: 1100 Euro, Überweisung für die ersten Monate des Neuen Lebens: 2000 Euro". Am Ende zieht Monique in ihre eigenen vier Wände im Dorf ihrer Tochter, und endlich beruft sich Louis hier auf die Formel von Virginia Woolf, dass eine Frau ein eigenes Zimmer und 500 Pfund im Monat bräuchte, um schreiben zu können.
Das war 1928 und ist hundert Jahre später immer noch so, das ist die Rechnung der Emanzipation, die Édouard Louis aufmacht. Moniques Geschichte wird er sicher weiter erzählen, es ist ja erst der Anfang ihres zweiten Neuanfangs. Als er mit seiner Mutter nach Hamburg reist, sie sitzt zum ersten Mal in einem Flugzeug, weil dort "Die Freiheit einer Frau" als Bühnenstück Premiere feiert, bringt Monique ihre eigenen Handtücher mit ins Hotel. TOBIAS RÜTHER
Édouard Louis, "Monique bricht aus". Aus dem Französischen von Sonja Finck. Fischer, 160 Seiten
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