Der neue Roman mit dem Titel "Der Junge" von Fernando Aramburo hat mich sogleich angesprochen. Es ist ein Roman mit einem realen Hintergrund. Im Oktober 1980 geschah das Unvorstellbare: In einer Grundschule eines Kleindorfes im Baskenland kam es infolge einer defekten Gasleitung zu einer Explosion. Diese forderte insgesamt 53 Opfer: 50 Kinder und drei Erwachsene starben. In der Folge war die gesamte Gemeinde traumatisiert.Aramburo zeigt die Auswirkungen des furchtbaren Unglücks exemplarisch am Beispiel einer Familie auf. In deren Mittelpunkt steht der verunglückte Junge namens Nuco. Die Trauer um ihn hat allen den Boden unter den Füßen weg gezogen, doch ein jeder verarbeitet den schweren Verlust auf eine eigene, individuelle Art und Weise.Mich persönlich am meisten berührt hat Nicasio, der Großvater. Seine Liebe zu Nuco war groß und sein Schmerz über dessen Verlust ist schier unerträglich. So unerträglich, dass Nuco für ihn weiter lebt. Er belgeitet ihn weiterhin zur Schule. Während er mit ihm durch die Straßen zieht, warnt er ihn vor dem Unglück und gibt ihm Tips, wie er die Katastrophe wird überleben können. Doch gleichzeitig besucht er den geliebten Jungen mindestens einmal wöchentlich auf dem Friedhof - an jenem Ort, wo er begesetzt wurde. Seine Verarbeitungsmechanismen der Trauer weisen folglich gegensätzliche Mechanismen auf: Neben Friedhofsbesuchen, die zeigen, er ist sich bewusst, dass der Junge nicht mehr lebt, stehen Handlungsweisen, die die Anerkennung ebendieser Tatsache vehement leugnen: Er hält seinen Enkel so gut es geht mit allen Mitteln am Leben, zum Beispiel auch, indem er in seinem Haus das Kinderzimmer des Jungen detailgetreu nachbaut.Natürlich trauern auch seine Eltern um Nuco: Mutter Mariaje und José Miguel. Letzterer kommt gleich in der ersten Nacht nach dem Unglück auf die Idee, ein weiteres Kind zeugen zu wollen. Doch ein Ersatz für Nuco soll es nicht sein. Mariaje und José Miguel möchten so schnell es geht, jede Spur im Haus, die an Nuco erinnert, auslöschen. Es dreht sich sehr viel um die Beziehungsdynamik zwischen den beiden. José Miguel "trainiert" wie besessen für einen erneuten Kindersegen, doch was will Mariaje? Klare Kommunikation zwischen den Ehepartnern findet nicht statt. So lässt Mariaje ihren Mann im Ungewissen, lässt den routinemäßigen, immer verbitteter werdenden Sex zunächst über sich ergehen, bis sie einen Weg findet, dem ein Ende zu bereiten, ohne aber Klartext zu reden. Wird das auf Dauer funktionieren? Das muss man als LeserIn des Buches natürlich selbst herausfinden.Mich hat diese Geschichte sehr berührt. Ich habe insbesondere mit Nicasio gelitten, mich über Mariaje hier und da geärgert, wobei ich sagen muss, dass sie am Ende eine Entwicklung durchlaufen hat. Aramburo hat diese Figuren mit sehr viel Fingerspitzengefühl und Empathie gezeichnet, ohne jede Dramatik. Um eine solche zu vermeiden, der Kritik entgegenzuhalten, er habe das Unglück für eigene Zwecke instrumentalisiert, hat er eine zusätzliche Erzählperspektive eingefügt: die des Autors bzw. des Textes selbst. Fürs Geschehen an sich notwendig, empfand ich die dort geschilderten Überlegungen doch als sehr wertvoll.Der Roman wirft auch ethische Fragen auf, ist in seiner Kürze dennoch vielschichtig. Für mich ein großes Highlight und eine absolute Leseempfehlung!