Aufwühlend und geschichtensatt: Übers Bauhaus, den Stararchitekten der DDR, zwei sich emanzipierende Frauen und die Fallen des Systems
Da ist der charismatische, von den Ideen des Bauhauses und der Avantgarde durchdrungene Idealist Hermann Henselmann, der nach dem Krieg zum Chefarchitekten Ost-Berlins aufsteigt und dort in Konkurrenz zu den West-Berlinern um Scharoun & Co. treten soll. Der Berliner Fernsehturm, die Stalinallee, der Leipziger Uniturm sind mit seinem Namen untrennbar verbunden. Der Preis freilich: Ständig muss er lavieren und manchmal auch zu Kreuze kriechen, um wenigstens die Grundlagen seiner modernistischen Ideen vor den stieseligen Vorstellungen der Politführung zu retten. Und da ist vor allem Henselmanns Frau Isi, hochbegabt, die auch als Architektin arbeiten will, aber mit einer auf acht Kinder anwachsenden Familie zu kämpfen hat, ständig die Scherben aufkehren muss, die ihr Mann hinterlässt, und sich zunehmend selbst emanzipiert. Und da ist die Tochter Isa, die sich der erstickenden Manipulation durch den cholerischen Vater entzieht, um ihren dornigen eigenen Weg in ganz anderen Milieus zu gehen. Und dann auch noch die eng verwandte Familie Robert Havemanns, bei dem Kompromisse wenig zählen und der sich der staatlichen Bevormundung komplett verweigert.
Besprechung vom 22.03.2025
Isi und Isa schlagen sich durch die neue Welt
Hermann Henselmann war ein moderner Architekt, der zum wichtigsten Baumeister der DDR wurde. Jetzt widmet ihm seine Enkeltochter Florentine Anders einen Roman - in dem die wirklichen Helden Henselmanns Frau und seine Tochter sind.
Von Niklas Maak
Von Niklas Maak
Vor dem Sozialismus kommt der absolute Luxus: Der Architekt Hermann Henselmann ist gerade einmal 25 Jahre alt, als er im schweizerischen Montreux ein atemraubendes Haus bauen darf. Am Hang, mit weitem Seeblick, lässt er um 1930 eine weiße Villa mit Dachterrasse, Langfenstern und roten Stahlgeländern errichten, ein Monument für Licht, Luft und Sonne, das sehr an die damals ungeheuerlichen Wohnhäuser von Le Corbusier erinnert. Henselmann entwirft die "Villa Kenwin" für das wohlhabende englische Ehepaar Kenneth McPherson und Anni Winnifred Ellerman. Der Name des Hauses setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der beiden zusammen, die ansonsten allerdings eher eine Scheinehe führten: Kenneth, von Beruf Filmemacher, stand vor allem auf Männer, die Schriftstellerin Anni war bisexuell und mit einer Schauspielerin zusammen.
Allein der Bau dieser Villa und das Leben darin würden genug Stoff für einen Roman bieten - aber sie ist nur der furiose Beginn einer der erstaunlichsten und bewegtesten Architektenkarrieren des zwanzigsten Jahrhunderts. Hermann Henselmann, geboren 1905, macht sich nach der Villa Kenwin in Berlin selbständig, sein heiteres, vom Bauhaus geprägtes Flachdachhaus in Kleinmachnow bringt ihn 1934 in Konflikt mit dem NS-Regime, er muss sein Büro aufgeben, kommt als angestellter Architekt durch den Krieg und steigt nach 1945 zum einflussreichsten Architekten der DDR auf. Berühmt sind seine Pläne für die Frankfurter Allee in Berlin, die, der stalinistischen Architekturdoktrin entsprechend, Elemente eines monumentalen Neoklassizismus und Haussmann'sche Städtebauideale des neunzehnten Jahrhunderts aufgriffen. Das wurde von Henselmanns Kollegen damals als Verrat an der westlichen Bauhausmoderne kritisiert, wohingegen man heute in den Arkaden und Fassaden seines programmatischen Hochhauses an der Weberwiese Qualitäten entdeckt, die dem Baufunktionalismus seiner Zeit abgehen.
Henselmanns Biographie umfasst sämtliche Bruchpunkte des zwanzigsten Jahrhunderts: Aufgewachsen im Kaiserreich, in den Zwanzigern elektrisiert durch die weiße Moderne, im Dritten Reich als Modernist und "jüdischer Mischling" doppelt gefährdet, nach dem Krieg erst Großmeister der stalinistischen Planstadt und nach Stalins Tod wieder Avantgardist: Die Bauten, die Henselmann für Berlin um 1960 plant, streben nicht mehr nach Hausmanns Paris und Stalins Moskau, sondern nach der Leichtigkeit und Schönheit der brasilianischen Moderne von Oscar Niemeyer, der trotz allen ästhetischen Differenzen Henselmanns Allee "eine der bedeutendsten Alleen der europäischen Metropolen nennt. Von 1960 an baut Henselmann westlich modern: Seine Kongresshalle und das Haus des Lehrers mit der propagandistischen Bauchbinde, dem Fries "Unser Leben" von Walter Womacka, übersetzen die Zukunftsbotschaften der DDR in Architektur und geben der Stadt optimistische Freiheitsräume, die das auftraggebende System gleichzeitig vermauert.
Es ist ein Wunder, dass niemand bisher die Geschichte von Henselmann und seiner Familie als Roman aufschrieb. Und vermutlich ist niemand dafür besser geeignet als die Journalistin und Schriftstellerin Florentine Anders: Sie ist die Enkeltochter von Henselmann.
Ihr Roman "Die Allee" leistet zweierlei. Er erzählt mitreißend und lebendig von den Erfolgen und Nöten eines Mannes, der mit seiner Architektur einem neuen System, einer Zukunftswelt die Bühne bereiten und ihr ein wirkmächtiges Bild geben soll. Er ist aber auch ein weiter greifendes Epochendrama, in dem Henselmanns Familie einen wesentlichen Platz eingeräumt bekommt: so seine Frau Isi, die selbst Künstlerin war und mit Henselmann nicht weniger als acht Kinder hatte, darunter die Tochter Isa. Beide versuchen sich von der übermächtigen Vaterfigur zu emanzipieren. Anders schafft es, dessen große Kämpfe zum Leben zu erwecken: Hermann "liebt es, nachts zu arbeiten, das Wissen darum, dass alle anderen und vor allem seine Konkurrenten in diesem Moment schlafen, gibt ihm ein Gefühl der Überlegenheit. Das spornt seinen Eifer an, das macht ihn wach, und falls das nicht hilft, nimmt er eine dieser Pillen aus der kleinen Dose. Oft kommt Hermann gar nicht nach Hause, sondern schläft die wenigen Stunden, die bis zum Tagesanbruch noch bleiben, im Büro. Im Schutz der Nacht arbeitet er unter Hochdruck an einem geheimen Plan, in den nur wenige Mitarbeiter eingeweiht sein dürfen." Innerhalb nur einer Nacht ist das Hochhaus an der Weberwiese fertig gezeichnet.
Henselmann überrumpelt seine Gegner, er gibt mit dem Entwurf dieses Hochhauses die Richtung vor. Auch seine Frau Isi, die er kennenlernte, als sie erst sechzehn war, und mit der er 1930 in einem Flugzeug nach Montreux zu seiner Baustelle flog, arbeitet jetzt in seinem Büro. "In der DDR kann auch eine Frau mit acht Kindern eine erfolgreiche Architektin sein, den Beweis gilt es anzutreten. Für das Hochhaus an der Weberwiese hat sie ihre ersten eigenen Entwürfe für funktionale Einbauküchen gemacht. Ihr Vorbild ist die berühmte Margarete Schütte-Lihotzky." Doch die acht Kinder halten Isi in Atem: Peter hat im Kaufhaus eine Uhr gestohlen, Isa wird mit zwölf von einem befreundeten Regisseur in einem Thälmann-Film besetzt, in dem sie eine Achtjährige spielt, die verzweifelt nach ihrem Papa ruft, als der von den Nazis verhaftet wird, bei der Vorführung lachen ihre Freundinnen aber über die "Papa, Papa"-Rufe, und sie verlässt gedemütigt das Kino. Henselmann besucht seine Mutter in Hamburg, die ihn für seine Arbeit im Sozialismus verachtet ("Na, kannst du jetzt jeden Tag aus dem Fenster auf euren feinen Stalin gucken, diesen Verbrecher", sagt sie höhnisch).
Je intensiver er an der großen Utopie arbeitet, desto mehr gerät ihm sein privates Leben aus den Fugen. Er beginnt eine Affäre mit einer Mitarbeiterin. Isi "wollte kämpfen, stattdessen liegt sie völlig zerstört mit Weinkrämpfen auf dem Boden, während die Kinder versuchen, sie mit Tee zu beruhigen." Sie beginnt schließlich für die Frauenzeitschrift "Sibylle" über Architektur zu schreiben; die Zeitschrift heißt so wie Isis Mutter, eine Malerin und "die erste Frau, die auf dem Einrad durch Düsseldorf fuhr".
Anders spart die dunklen Kapitel der Familiengeschichte nicht aus. Cordula, eine der Töchter, stirbt plötzlich an Leukämie, ein älterer Künstler vergewaltigt Isa in West-Berlin, erst bei Assim, einem algerischen Austauschstudenten findet sie Geborgenheit. Am schönsten ist Anders' Roman dort, wo es gelingt, mit wenigen Worten Szenen und Stimmungen zu vergegenwärtigen, die eine ganze Epoche, eine ganze Welt erklären. Wie Henselmann mit Brecht Zigarren raucht und Brecht ihm erklärt, dass die Arbeiterklasse noch nicht reif für die Moderne sei. Wie Isa am 1. Mai mit blauem Halstuch auf dem Platz steht, den ihr Vater plante, an einem Ort, der zehn Jahre zuvor nur in seinem Kopf existierte. Wie die Kinder im Sommer allein im Ferienhaus sind, "nur am Wochenende kommen Isi und Hermann vorbei, bringen ein paar Lebensmittel und lassen etwas Geld da. Bis es so weit ist, können die Kinder in der Ausflugsgaststätte Fleischmann essen und anschreiben lassen."
Es sind diese Stellen im Roman, in die man gern einziehen würde wie in ein Haus von Henselmann, in die Erzählung vom planlosen Glück endloser Sommer jenseits der Planstadt: "Mit einer Astgabel fängt sie am morastigen Seeufer Krebse, wäscht sie dann in der Regentonne, bevor sie als Delikatesse zubereitet werden. Wenn man in den Wald läuft, kommt man an die Russenbadestelle. Hier kochen die Soldaten am Abend über einem Feuer in einem großen Topf Fischsuppe mit viel Knoblauch." Die Utopie im Leben der Tochter Isa ist nicht der Sozialismus, sondern Algerien: Sie malt sich das Leben mit Assim in Algier aus, "die schmalen Gassen der Kasbah, das leuchtende, tiefe Blau, mit dem die Berber ihre Türen streichen, um das Böse fernzuhalten, und das Ocker des Atlas-Gebirges. Sie spürt die salzige Luft des Mittelmeers auf der sonnengewärmten Haut, sieht sich mit Assim am Strand von Algier spazieren." So kommt 1968 auch die Geschichte der Frauen im Zentrum der größten gebauten sozialistischen Utopie an einen Punkt, an dem jenseits des Pflasters vor allem der Strand lockt.
Florentine Anders: "Die Allee". Roman.
Galiani Verlag,
Berlin 2025.
352 S., geb.
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