Nobelpreis für Literatur 2024
Der neue große Roman von Han Kang
»Unmöglicher Abschied« erzählt die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei Frauen und beleuchtet zugleich ein jahrzehntelang verschwiegenes Kapitel koreanischer Geschichte
Eines Morgens ruft Inseon ihre Freundin Gyeongha zu sich ins Krankenhaus von Seoul. Sie hatte einen Unfall und bittet Gyeongha, ihr Zuhause auf der Insel Jeju aufzusuchen, weil ihr kleiner weißer Vogel sterben wird, wenn ihn niemand füttert. Als Gyeongha auf der Insel ankommt, bricht ein Schneesturm herein. Der Weg zu Inseons Haus wird zu einem Überlebenskampf gegen die Kälte, die mit jedem Schritt mehr in sie eindringt. Noch ahnt sie nicht, was sie dort erwartet: die verschüttete Geschichte von Inseons Familie, die eng verbunden ist mit einem lang verdrängten Kapitel koreanischer Geschichte. Han Kangs neuer Roman ist eine Hymne an die Freundschaft und das Erinnern, die Geschichte einer tiefen Liebe im Angesicht unsäglicher Gewalt - und eine Feier des Lebens, wie zerbrechlich es auch sein mag.
Besprechung vom 14.12.2024
Die Massengräber unter dem Schnee
Requiem aus Knochen: Die südkoreanische Nobelpreisträgerin Han Kang holt in ihrem Roman "Unmöglicher Abschied" eine beschwiegene Tragödie aus der Vergessenheit.
Alles beginnt mit einem Hilferuf wie aus einem Gemälde von Goya. Dabei steckt die Ich- Erzählerin von Han Kangs Roman selbst in einer Krise. Die Schriftstellerin Gyeongha, die seit Monaten von Albträumen geplagt wird, von Bildern mit Überschwemmungen, verkohlten Bäumen und Grabsteinen, kann ihre Wohnung in Seoul nicht mehr verlassen und feilt schon an einem "Abschiedsbrief an die Welt", als sie eine SMS von ihrer Freundin Inseon erhält, die sie anfleht, alles stehen und liegen zu lassen und zu ihr zu kommen.
Inseon ist Fotografin und lebt seit einigen Jahren auf Jeju, einem Eiland im Süden der koreanischen Halbinsel. Als Gyeongha sie im Krankenhaus in Seoul aufsucht, in das Inseon nach einem Arbeitsunfall gebracht wurde, bittet Inseon sie, auf die Insel zu reisen, um ihren Papagei Ama zu retten, der im Haus zurückgeblieben ist und zu verdursten droht. Gyeongha steigt ins nächste Flugzeug, doch als sie landet, tobt auf Jeju ein heftiger Schneesturm, der sich bald in eine albtraumhafte Szenerie verwandelt, in der sich die Realität mit Visionen, Bildern und Träumen vermischt. Gyeongha, die kaum gegen die Kälte und die Schneemassen ankommt, befindet sich auf einer doppelten Reise. Während sie sich zunächst zu Inseons Haus durchschlägt, um sich vor den Naturgewalten in Sicherheit zu bringen, fällt sie im Haus der Freundin nur noch tiefer in die Dunkelheit, als sie anhand von Zeugnissen und Dokumenten sowie Geistererscheinungen von einem vergessenen Kapitel der koreanischen Geschichte erfährt.
Mit poetischer Feinfühligkeit, an deren mitunter erhabenen Ton man sich erst gewöhnen muss, untersucht die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin Han Kang in "Unmöglicher Abschied" die Beziehung zweier Frauen vor dem Hintergrund einer Tragödie, die hierzulande kaum bekannt und in Südkorea noch lange nicht überwunden ist. Der Roman, der im koreanischen Original bereits 2021 erschienen ist, erscheint am Montag in der Übersetzung von Ki-Hyang Lee auf Deutsch.
Das grausame Geschehen auf Jeju ereignete sich zwischen November 1948 und Anfang 1949 kurz vor Ausbruch des Koreakrieges, als etwa 30.000 Zivilisten - zehn Prozent der Inselbevölkerung - unter dem Vorwand, kommunistische Sympathisanten zu jagen, von Armee und Polizei ermordet wurden. Lange Zeit wurde das Massaker von offizieller Seite vertuscht. Erst seit gut zwanzig Jahren ist es den Nachfahren überhaupt gestattet, nach den sterblichen Überresten ihrer ermordeten Familienmitglieder zu suchen.
Im Mittelpunkt des Romans stehen die Frauen Inseon und Gyeongha, doch Inseons verstorbene Mutter ist die heimliche dritte Heldin. Deren Familie fiel dem Massaker auf Jeju zum Opfer. Bis an ihr Lebensende wehrte sich die Mutter gegen das staatlich verordnete Vergessen. Als Kind musste sie in den Leichenbergen die Gesichter der Toten vom Schnee befreien, um ihre Eltern zu identifizieren. Als Erwachsene hörte sie nicht auf, nach den verscharrten Gebeinen der Ermordeten zu suchen. Han Kang interessiert sich für die labyrinthischen Tiefen des kollektiven und privaten Gedächtnisses. Nicht zufällig nennt sie den deutschen Schriftsteller W. G. Sebald als einen ihrer Säulenheiligen, der literarisch die Rekonstruktion von Vergangenheit und die Vergegenwärtigung menschlichen Leids in seinen Werken behandelte.
Nichts in Han Kangs Prosa ist reine Beschreibung. Alles ist vielmehr metaphorisch aufgeladen: Zedernbäume, stürmische Winde oder der Kontrast von Licht und Schatten. Das große Leitmotiv in dieser parabelhaften Erzählung aber ist der allgegenwärtige gleißend helle Schnee. Seine Kälte durchdringt jede Pore dieses Dramas zwischen Gegenwart und Geschichte. Wie ein Leichentuch bedeckt er die Toten und die Lebenden und lastet schwer auf den Seelen.
In einer fast lautlosen, doch kraftvollen Sprache, die das Pathos nicht scheut, kreiert Han Kang einen seltsam gedämpften, fast hypnotischen Raum zwischen Phantasie und Realität, der von einer Atmosphäre der Unruhe getragen wird und alle möglichen Bilder und Träume entstehen lässt.
Die 1970 in Gwangju geborene Tochter des Schriftstellers Han Seung-won, die selbst in Armut aufgewachsen ist, verschont in ihrem Roman niemanden. Vielmehr setzt sie alle ihre Figuren der Hölle des Lebens aus: die Ich-Erzählerin Gyeongha, die so einsam ist und voller Schmerz, dass sie nur noch im Tod einen Ausweg sieht, ebenso wie ihre Freundin Inseon, die im Hospital drei Wochen lang alle drei Minuten von einer Krankenschwester mit einer Nadel in die genähte Wunde gestochen wird, damit ihre Finger nicht absterben - und natürlich die Inselbewohner, die dem staatlichen Blutrausch zum Opfer fielen.
Han Kang, die mit ihrer Novelle "Die Vegetarierin", einer Mischung aus häuslichem Thriller und Verwandlungsparabel, international bekannt wurde, arbeitete schon damals wie jetzt auch hier unter anderem mit kursiv gedruckten Sequenzen, die sie in ihren Roman einfügt, um Gedanken der Erzählerin wie auch andere Stimmen einzufangen, die eine andere Ebene etablieren. Es gibt auch Bezüge zu dem 2014 erschienenen Roman "Menschenwerk", in dem sich Han Kang mit dem Aufstand in Gwangju 1980 beschäftigt, bei dem Studenten und Bürger vom südkoreanischen Militär brutal niedergeschlagen wurden - ihre Figur Gyeongha ist durch die Arbeit an einem Roman über ein Massaker traumatisiert. Im Vergleich zu "Menschenwerk" wirkt "Unmöglicher Abschied" in seiner Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit noch düsterer. Verstärkt durch den Wechsel der Zeitformen und die fragmentarische Erzählweise dieser Chronik des Schmerzes verlässt sich die Autorin ganz auf ihre Motive, um die Fäden der Handlung zusammenzuhalten.
Gyeongha, die bald wie eine Getriebene erscheint, ahnt, dass sie von Inseon nicht nur auf die Insel geschickt wurde, um einen Papagei zu retten, sondern auch, um sich mit der schmerzhaften Vergangenheit der Insel auseinanderzusetzen. Während der Roman in drei Teilen an der Oberfläche ruhig erzählt wie rieselnder Schnee, entwickelt er im Inneren die Intensität einer Lawine, die immer unberechenbarer wird. Der Roman ist die Autopsie eines Massakers, die Gewalt und Tod in ihrer grässlichsten Form beschreibt. Zugleich gibt es Passagen, die in großer Intimität von der Freundschaft zweier Frauen zwischen Zärtlichkeit, Komplizenschaft und Bewunderung erzählen sowie von einem sich über die Jahrzehnte wandelnden Mutter-Tochter-Verhältnis. Was Han Kangs Prosa ausmacht, ist diese eigentümliche Verbindung aus sprachlicher Gelassenheit und eisigem Schrecken. Das Gewalttätige erhält dadurch Kontur - und darum geht es in dieser Anklage gegen das Vergessen. SANDRA KEGEL
Han Kang: "Unmöglicher Abschied". Roman.
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee.
Aufbau Verlag, Berlin 2024. 315 S., geb.
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