Besprechung vom 13.11.2024
New York als Kontaktzone
Spuren im Netzwerk: Helene Roth widmet emigrierten deutschsprachigen Fotografen eine minutiös gearbeitete Recherche.
Lang, sehr lang ist die Liste der deutschsprachigen Fotografen und Fotografinnen, die während der NS-Zeit nach New York emigrierten. Sie reicht von Ellen Auerbach, Ruth Bernhard, Ilse Bing und Josef Breitenbach über Andreas Feininger, Trude Fleischmann, Lotte Jacobi und Lisette Model bis hin zu Rolf Tietgens, Roman Vishniac, Werner Wolff und Ylla, um nur einige zu nennen. Bereits diese Namen deuten an, dass man es mit einer in vieler Hinsicht heterogenen Gruppe zu tun hat, ästhetisch reicht der Bogen von Tierfotografien und surrealistischen Fotomontagen bis zu neusachlichen Architekturaufnahmen und sozialdokumentarischen Reportagen.
So unterschiedlich wie die ästhetischen Ausrichtungen sind auch die Ausdrucks- und Publikationsformen und, wie wir nun durch die minutiöse Recherche von Helene Roth wissen, die lebensweltlichen Verortungen. Roths Buch geht zurück auf eine mehrjährige Recherche in Archiven, deren Auflistung viele, sehr viele Seiten umfasst. Einiges, was sie dabei in Bild und Text zutage gefördert hat, war bisher kaum bekannt oder - bei den Prominenten - allenfalls ein kurzes Kapitel in einem Ausstellungskatalog oder eine Randbemerkung in einem Aufsatz wert. In dieser Hinsicht hat man es mit einer echten Pionierarbeit zu tun, die immer dann überzeugt, wenn sie das Material in seiner Fülle entfaltet und dabei mitunter eine regelrechte Netzwerkanalyse vornimmt. Weniger überzeugend ist die theoretische Ebene, die sie gelegentlich einzieht, da sich diese zumeist wie eine fremde Stimme ausnimmt und das Material nicht wirklich in anderer Form aufschließt. Doch auch so hat man es mit einem reichen Kompendium zu tun, das ein wichtiges historisch-ästhetisches Feld aufschluss- und informationsreich kartiert.
Doch wie lässt sich eine so große Materialfülle überhaupt sinnvoll ordnen und darstellen? Es geht immerhin um viele Fotobücher, biographische Dokumente wie Tagebücher, Briefe oder Berichte, aber auch um Förderinstitutionen, Museen, Agenturen und Bildnachlässe mit Zigtausenden Abzügen. Helene Roth macht sich geschickt die Tatsache zunutze, dass die höchst unterschiedlichen Fotografinnen und Fotografen gleichwohl doch vieles teilen, angefangen mit der Fluchtroute über eine recht überschaubare Zahl von Publikations- und Verdienstmöglichkeiten, bestimmte Verlage und Institutionen, die ihnen Arbeit gaben, wie das Museum of Modern Art oder die New School for Social Research, bis hin zu bestimmten Vierteln der Stadt, die sie frequentierten oder in denen sie arbeiteten. Sechs der acht Kapitel stellen jeweils einen dieser Bereiche mitsamt den Lebens- und Arbeitswegen vor, die sich mal überschneiden, mal aber auch parallel zueinander verlaufen. Es ist eine Art Netzwerkstudie, die zwar gelegentlich auch Karten und Stadtpläne enthält, um auf diesen die Fotografinnen und Fotografen konkret verorten zu können, zumeist aber anschaulich aus dem reichen Material heraus entwickelt wird. Dargestellt wird dabei in Text und Bild nicht dessen gesamte Breite, sondern - ungleich plastischer - das eine oder andere repräsentative Beispiel.
So werden etwa verschiedene Serien von Aufnahmen vorgestellt und verglichen, die während der Schiffsüberfahrten nach Amerika entstanden, werden anhand der erhaltenen Bilder Wege durch die Stadt mitsamt ihren fotografischen Perspektiven rekonstruiert oder auch wichtige damals publizierte Fotobücher vorgestellt.
Das Leben im New Yorker Exil wird keineswegs als Verlust beschrieben, sondern als ein Raum der Möglichkeiten, von denen auch die dortige Kunstszene profitierte, selbst wenn die meisten Fotografinnen lange als "enemy aliens" geführt wurden. "Kreativität", "Kontaktzonen", "Netzwerke" sind daher Schlüsselbegriffe dieses kompakten Kompendiums, das einen Raum beschreibt, in dem sich viel tat. Das gilt auch für die Fotografie, die in dieser Zeit ihrerseits im Umbruch begriffen ist und sich erst allmählich den Bereich der Kunst und der Presse erschließt. Hier, im New Yorker Exil, wird sie zu einem intellektuellen, ästhetischen, aber auch politischen und queeren Reflexionsmedium im besten Sinne. Das vielleicht anregendste Kapitel gilt nämlich den queeren Praktiken der Fotografinnen und Fotografen, die Teil einer Kunstszene werden, in der unter vielen anderen auch Patricia Highsmith verkehrt, die sich auf Liebeleien und bemerkenswerte Porträtsitzungen einlässt, deren Bilder dann zum Teil für surreale Kompositionen weiterverwendet werden. In ihren Aufzeichnungen hat sie einige Hinweise hinterlassen, die eine weitere Perspektive auf die auch in Sachen sexueller Neigungen experimentelle Fotoszene eröffnen. BERND STIEGLER
Helene Roth: "Urban Eyes". Deutschsprachige Fotograf*innen im New Yorker Exil in den 1930er- und 1940er- Jahren.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024.
494 S., Abb., geb.
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