Besprechung vom 05.10.2019
Keine Trommeln zu mögen reicht nicht
Jackie Thomaes Roman "Brüder" betreibt ein großartiges Spiel mit unseren Klischees
Verrisse schreiben sich sprachlich immer rasant runter, aber wenn es was zu loben gibt, dann steht man vor Wörtern wie "lebensklug" und "welthaltig" und zuckt zurück, weil sie so abgeschmackt klingen und man das jetzt wirklich nicht ernsthaft aufschreiben will. Und Vergleiche helfen auch nicht weiter. Aber irgendwie muss man die Sache ja angehen, also: Jackie Thomaes zweiter Roman "Brüder" weiß ziemlich viel über das Leben und die Welt zu erzählen und kann in wenigen Sätzen Szenen und Figuren anlegen, dass man mit den Ohren schlackert, wie da durch präzise skizzierte finanziell scheiternde Berliner Clubs und Resorts in Thailand und chinesische Großbaustellen galoppiert wird, als wäre es nichts. Und wie da über Hautfarben und deren Zwischentöne geschrieben wird, die mit der Handlung auf den ersten Blick nicht viel zu tun haben, aber an denen niemand so recht vorbeikommt, das hat man in dieser Subtilität zuletzt bei Zadie Smith gelesen.
So, da ist er, der Vergleich, es wundert einen, dass er nicht schon viel früher irgendwo gefallen ist. Er liegt auch auf der Oberfläche so nahe: Die eine Autorin jamaikanisch-britisch, die andere mit einer ostdeutschen Mutter und einem Vater aus Guinea, beide aufgewachsen in Europa. Aber die Sache geht tiefer, denn beide, Smith wie Thomae, haben sich für das Prinzip des Erzählens entschieden und füllen ihre Bücher mit überbordenden, fiktionalen Biographien, beide haben ein Händchen für und einen sehr genauen Blick auf Lebensläufe und Zeitgeistumstände und einen Humor, der nie ins Zynische kippt - um jetzt nicht auch noch das fürchterliche Wort "warmherzig" zu verwenden, auch wenn es die Sache trifft.
Jackie Thomae hat bereits mit ihrem Debüt, dem Trennungsreigen "Momente der Klarheit" gezeigt, dass sie sich in Figuren hineinfinden kann, die in immer neuen Konstellationen übereinander nachgedacht haben und aneinander gescheitert sind. In "Brüder" nun kommen noch ein paar Dimensionen hinzu: weniger Figurenreigen, mehr Welt. Der senegalesische Vater der titelgebenden Brüder studierte in der DDR Medizin und wurde Zahnarzt. Er war kein Einzelfall, Angehörige soeben unabhängig gewordener afrikanischer Staaten waren im realexistierenden Sozialismus sehr willkommen, denn vielleicht konnte man die junge Elite ferner Länder von seinen Vorzügen überzeugen. Idris, so heißt der Vater, überzeugte sich zunächst von den Vorzügen der ostdeutschen Frauen und zeugte zwei Jungen, Mick und Gabriel. Soweit die Ausgangslage.
Diese beiden leben ziemlich unterschiedliche Leben. Mick trudelt durch die neunziger Jahre und durch das Berliner Nachtleben, das mittlerweile ein gesamtdeutsches ist, denkt nicht allzuviel über irgendwas nach und hat etwas seltsame Freunde, vermutlich die falschen. Er fährt oft im Taxi durch die Nacht, telefoniert, um irgendetwas oder irgendjemanden ranzuschaffen und zieht durch die Betten. Er sieht gut aus und weiß es auch, denn er hat hart daran gearbeitet. In der Juristin Delia, einer Frau aus gutem Hause, findet er überraschenderweise eine Partnerin in crime, wortwörtlich, sie schmuggelt mit ihm sogar Drogen, so richtig interkontinental, im Flugzeug. Die völlig aus dem Ruder laufende Drogenschmuggelszene kommt ziemlich am Anfang vor und ist wirklich ein herrlich hysterischer Slapstick; wer sich da nicht in dieses Buch verliebt, dem ist nicht mehr zu helfen. Denn auch das haben Jackie Thomae und Zadie Smith gemeinsam: Sie können überzeugend über halbstarke Bengel schreiben, die demnächst Ärger an den Hals bekommen, und zwar so, dass sich in keinem Moment ein gouvernantenhafter Zeigefinger hebt, eher hört man eine leise Belustigung heraus, als hätte die Autorin beim Schreiben still in sich hineingekichert. Die Rezensentin zumindest kicherte haltlos.
In der zweiten Hälfte wird das Buch dann erwachsen, denn es ist Gabriel gewidmet, dem anderen der beiden Brüder. Gabriel ist hoch seriös, lebt in London und ist ein erfolgreicher Architekt. Im Wechsel mit seiner Frau Fleur erzählt er seine Geschichte, und Fleur beschreibt ihn so: "Gabriel richtete sein gesamtes Lebenskonzept darauf aus, keine Stereotypen zu erfüllen. Dafür fuhr er eine beeindruckende Ansammlung an Gegenklischees auf", also eine Vorliebe für klassische Musik, konservative Kleidung, ein betont unkumpeliger Umgang mit Menschen, die ihn nicht interessieren, und das sind die meisten. "Keine Trommeln zu mögen macht aus dir keinen Weißen, Gabriel", rutscht es Fleur einmal heraus, und sie trifft ihn damit hart, denn Gabriel ist sehr damit beschäftigt, seine eigene Hautfarbe zu ignorieren. Er schafft es ja kaum, sich für seine deutsche Herkunft zu interessieren, wie soll ihm da etwas an diffusen afrikanischen Wurzeln liegen?
Auch wenn in dieser zweiten Hälfte keine koksgefüllten Kondome mehr geschluckt werden, ist sie nicht minder unterhaltsam, denn Gabriel hat einen reichlich misanthropischen Blick auf das Milieu, das er sich selbst ausgesucht hat und dann doch nur selten erträgt. Er sprengt Abendessen im südfranzösischen Ferienhaus mit Meinungen zu Kindererziehung und hadert mit der Vorliebe seines Sohnes Albert für sein Schlagzeug ("Kann er nicht ein schöneres Instrument lernen?"). Er bemüht sich, alle englischen Mittelklasseklischees zu erfüllen, und rennt im entscheidenden Moment doch immer wieder dagegen an. Er arbeitet zu viel, und irgendwann kommt es zu einem Kurzschluss, der ihn aus der Bahn seines geregelten Lebens wirft.
Auf den ersten Blick haben die beiden Brüder, die eigentlich Halbbrüder sind, eine sehr ähnliche Ausgangsbasis, und doch entwickeln sie sich so völlig unterschiedlich. Denn am Ende kommt es womöglich darauf an, auf welche Menschen man zufällig stößt, welches Temperament man mitbringt und ob man eigentlich weiß, was man will. Diese ganzen Lebensdinge eben. Gabriel weiß es sehr früh und setzt es mit einiger Konsequenz um, Mick braucht etwas länger. Und so geht es am Ende doch wieder nicht um Hautfarben, sondern um die Biographie zweier junger Männer, die eben sehr verschieden sind und sich nur durch genetische Zusammenhänge zufällig ein wenig ähneln und aus der Masse der Menschen herausstechen, die sie umgeben. So wichtig ist Genetik ja wirklich nicht. Dass diese "Brüder" auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stehen, ist jedenfalls hochverdient.
ANDREA DIENER
Jackie Thomae: "Brüder". Roman.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2019. 416 S., geb.
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