Was sie wollte, war Zeit. Was sie wollte, war die Wahl.
»Jackie Thomaes Kunst liegt darin, große Kunst zu schaffen, ohne dass die sich groß anfühlt, einen Roman mit Anspruch, der den Anspruch nicht vor sich herträgt. « Der Spiegel
Marie-Claire, kurz MC, bekannt als die gut gelaunte Stimme aus dem Radio, bekommt mit knapp vierzig von ihrer Frauenärztin diesen Satz zu hören: Sie hatten ein Vierteljahrhundert Zeit. Und jetzt ist es zu spät oder so gut wie. Die wichtigste Deadline des Lebens: verpasst. Oder noch nicht? Denn als MC am nächsten Morgen aufwacht, ist sie zu ihrer eigenen Überraschung das erste Mal wirklich glücklich.
Anahita ist eine wandelnde Erfolgsgeschichte: Senatorin mit nicht einmal vierzig, Medienprofi, in ein paar Jahren könnte sie in Brüssel sitzen. Doch etwas fehlt, auch wenn sich das niemand zu sagen traut. Eine Politikerin muss kompetent sein, und ist Mutterschaft nicht immer noch die wichtigste Kompetenz einer Frau?
Glück ist ein Roman über Frauen unter Druck, über die Phase im Leben, in der sie zu alt sind, um noch länger warten zu können, und zu jung, um die Wahl hinter sich zu haben. Klug, humorvoll und ehrlich. Doch was wäre, wenn diese Phase sich künstlich verlängern ließe? Wenn die Frauen, wie die Männer schon immer, einfach noch Zeit hätten?
Besprechung vom 24.10.2024
Die Kinderfrage als Machtfrage
Und die böse, aber wirksame Metapher vom Verfallsdatum: Jackie Thomaes gewitzter Roman "Glück" über trödelnde Alphafrauen
Chapeau für diesen Romanheldinnennamen: Marie-Claire Sturm - eine Frau, an der keiner unzerzaust vorbeikommt. Ihre Mutter hatte während der Schwangerschaft in einer französischen Frauenzeitschrift geblättert, und: zack! der Name war gefunden. Marie-Claire ist, wie sie heißt, und sie heißt, wie sie ist: eine Hauptfigur mit Effekt.
Zu Beginn von "Glück" ist MC, wie sie im Roman abgekürzt wird, eine in Berlin lebende Radiomoderatorin in der zweiten Hälfte ihrer Dreißiger, der langsam ein Licht aufgeht - und nicht nur eins! Ihr ist nämlich vor Kurzem klar geworden, dass sie ihre letzten fruchtbaren Jahre mit Meister-Hora-haftem Zeitverständnis vertrödelt hat. Und noch eine Wahrheit: "Sie gehörte zu dem Personenkreis, der ein Resultat des Feminismus war, und sie hatte sich dementsprechend verhalten, nämlich gemacht, was sie wollte, als sie in einem Alter war, in dem ihre Großmutter schon als alte Jungfer gegolten hätte. Und sie musste feststellen, dass sie sich trotz ihres Berufs, ihres Jahrgangs und ihres Selbstbilds hätte benehmen müssen wie eine verarmte Adelige aus einem Jane-Austen-Roman. Die aber den Vorteil gehabt hatte, dass sie wusste, was ihr blühte, würde sie diese einzige Aufgabe in ihrem Leben verpennen."
Die Rede ist vom Kinderkriegen, vom Kinderhaben und vom Kindergroßziehen. Eine Frage, so die Arbeitshypothese des Romans, an der keine Frau vorbeikommt - ob sie nun einen Kinderwunsch hat oder keinen. Alles - die Biologie, die Rollenbilder, der Pflegenotstand - drängt hin zu diesem Thema. Und so bleibt es nicht aus, dass MC sich fragt, was sie eigentlich von ihren Vierzigern erwartet. Bei der Sondierung helfen Zeitschriften, Umfragen und die anekdotische Evidenz. Die Lösung für Frauen wie MC ist diesen Artikeln, Umfragen und Anekdoten zufolge, "sich von ihren unrealistischen Träumen zu verabschieden".
Eine Frau, die bis Ende dreißig ein erst wildes, dann unstetes Liebesleben hatte, wird ihren perfekten Familienvater-Match wohl nicht mehr machen: "Denn MCs Ansprüche waren ständig gestiegen, ins Unermessliche, das hatten das Warten und die wachsende Wut mit sich gebracht, eine Liste an Anforderungen, die vermutlich niemand mehr erfüllen konnte." Und warum nicht, fragt das Buch. "Weil es niemanden gab, der im richtigen Alter war und dabei ein unbeschriebenes Blatt, der ihr nicht mit seinen Altlasten ins Konzept pfuschen würde, mit einer Ex-Frau und Kindern, die ihm dann wichtiger wären als die Kinder, die er mit ihr hätte. Der dann auch noch Versorgerqualitäten hätte und trotzdem die Pflichten mit ihr teilen würde. Einer, der nicht langweilig wäre und dabei zuverlässig, der sie nicht aus ihrem sozialen Kontext reißen würde, weil er zu dies oder jenes war, unpassend eben. 'War das realistisch?' Nein. Denn in Wirklichkeit war sie jetzt im Sale zu haben, für jeden Deppen, für einen Bruchteil des Ursprungspreises, aufgrund des Verfallsdatums. Da waren sie wieder, ihre Metaphern, und diese sagte sie sich ganz besonders oft."
Es ist schwer, sich solch weisen Worten zu entziehen, ebenso wie den emotionalen Bedrängnissen der Heldin, die sich eigentlich ganz gut durchs Leben schlägt. Sie hat Liebschaften, sie hat einen interessanten Beruf, sie trifft jede Menge Menschen durch diesen Beruf. Aber langsam und unaufhaltsam wächst der Druck.
Im Roman ist MC nicht allein mit ihrem Kinderwunsch. Eine zweite Hauptfigur heißt Anahita Martini. Sie ist im gleichen Alter wie Marie-Claire. Eine High-Performerin, erst Abgeordnete im Berliner Landtag, dann Europapolitikerin. Auch ihre Geschichte erzählt Jackie Thomae als eine prototypische. Denn wie Marie-Claire hat Anahita getrödelt. Will heißen: Karriere gemacht. Davor hatte sie einen langweiligen Freund. Dann ein paar Jahre keinen Freund. Ab und zu eine Affäre. Etliche Selbstzweifel und ein bisschen Familienballast (die Eltern stammen aus Iran, weswegen Anahita nicht nur die Rolle der "Quotenfrau" im Politzirkus glaubt spielen zu müssen, sondern auch noch die der Vorzeigemigrantin.) Die Jahre zogen ins Land. Das Bildungsressort rief. Anahita folgte und musste nun idealistische Reden schwingen, bei denen sich Mütter mit ihren Kinderzukunftsproblemen gesehen fühlen würden, während Anahita sich zunehmend fragte, ob sie selbst das Wichtigste im Leben gerade verpasste.
Jackie Thomae lässt ihre beiden kinderlosen Alphafrauen in einer Radiosendung aufeinandertreffen, die Marie-Claire moderiert. Und in der sie der Politikerin nach einem langen Interview unvermittelt die K-Frage stellt. Die Luft steht still. Ein unvergesslich scheußlicher Moment für beide Frauen. Denn beiden wird klar, dass die Kinderfrage in Wahrheit eine Machtfrage ist. Wer vor ihr in die Knie geht, auf den wird herabgeschaut.
Jackie Thomae beleuchtet das Thema in ihrem Roman, der "Glück" heißt, weil er nach dem Glück jenseits des Familienglücks fragt. Was ist ein gelungenes Frauenleben? Was ist eine Karriere, wenn sie das Opfer der Kinderlosigkeit fordert? Oder ist es gar nicht die Karriere, die dieses Opfer fordert, sondern der Umgang mit der eigenen Lebenszeit? "Wie sollte das mit einem Kind überhaupt funktionieren, fragte Anahita sich mindestens einmal täglich, meist öfter; wie sollte es in ihren Zeitplan passen?"
Klarheit verschafft eine Nebenfigur des Romans, die Maren heißt und die auf einer Mittelmeerinsel Retreats für Menschen mit unerfülltem oder unerfüllbarem Kinderwunsch anbietet. Ein Geschäftsmodell, das Maren sicher durchs Leben trägt. Dabei muss sie nicht mal den Leidensweg der Frauen nachtrampeln. Sie gehört zu jenen weiblichen Wesen, die nie irgendeine Uhr ticken hörten und demnach auch nicht den Weckruf überhört haben können. Sie sehnen sich nicht nach einem Kind.
Jackie Thomae dekliniert in "Glück" pointensicher sämtliche Haltungen zur Kinderfrage durch. Dabei führt sie ihre Leserinnen bisweilen auf Abwege, wenn Nebenfiguren wie beispielsweise Familienmitglieder erst ausführlich eingeführt werden und dann unverrichteter Dinge wieder ihres Weges gehen. Wie Freunde von guten Freunden, zu denen die Hauptfiguren im Laufe von fast 430 Seiten Lektüre werden.
Im zweiten Teil des Romans bekommt das unterhaltsam Kolportagehafte von "Glück" dann einen zusätzlichen Dreh. Durch die Augen der Frauenärztin Henriette - Achtung! - Nonnenmacher und der Reproduktionsmedizinerin Prof. Dr. Dr. Berit - Hoppla! - Schulz-Lang erleben wir bei einem Kongress die Vorarbeiten zur Zulassung eines Medikaments. Allen Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch über vierzig, also auch Marie-Claire und Anahita, kann dank Ambeth geholfen werden. Die Pille verschiebt nämlich nebenwirkungsfrei die Menopause auf. Zumindest in der Romanrealität.
Die Fruchtbarkeitspille bleibt allerdings nur ein kleiner Aspekt der Denkübungen, die "Glück" in Sachen Kinderwunsch anstrengt. Die Hauptstärke dieses Buches ist aber gar nicht sein Körperdiskurs, sondern Jackie Thomaes Gabe, äußerst vergnüglich damit umzugehen. Man erfährt in diesem Buch also nicht nur, dass sich Frauen auch im 21. Jahrhundert noch vor einem Erwartungshorizont wiederfinden, der von Kindern und Enkeln bewohnt wird. Man erfährt auch, wie Frauen über Frauen oft denken: "Berit sah aus wie früher. Sie hatte früher schon nicht gut ausgesehen, und deshalb wirkte es jetzt so, als hätte sie sich gut gehalten." KATHARINA TEUTSCH
Jackie Thomae:
"Glück". Roman.
Claassen Verlag,
Berlin 2024. 432 S.,
geb.
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