Ein ungleiches Paar findet sich, verliebt sich, und am Ende ist einer tot. Jaqueline Scheiber erzählt mit ihrem ersten Roman die Geschichte einer aufkeimenden Liebe in Wien und wie sie abrupt endet. Sie wechselt die Perspektiven zwischen der Österreicherin Klara und dem Ungarn Balázs (wobei die Haupterzählerin Klara ist) und lässt eine tackende Uhr ablaufen, hin zu dem Zeitpunkt, an dem der Tod der Liebe Einhalt gebietet (das ist kein Spoiler, denn man erfährt in Kapitel 1 davon). Dabei springt die Autorin auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Doch erstmal von vorne. Unterschiedlicher hätte ihre Kindheit nicht verlaufen können - Balázs ist einem Umfeld aufgewachsen, in dem es keinerlei Anerkennung für Statussymbole gab, dafür wirkte die Prägung durch die ehemalige kommunistische Staatsführung in seiner Familie zu stark nach. Es zählte mehr die Funktionalität der Dinge - gekauft wurde, wenn etwas kaputt, oder nicht mehr reparabel war. Klara hingegen wuchs in einer wohlhabenden Familie auf - derlei begründete Sparsamkeit und Existenzängste waren und sind ihr fremd. Jaqueline Scheiber führt uns so unterschwellig (oder doch eher vordergründig?!) den auch heute noch vorherrschenden Klassismus vor Augen.
Als ältester von drei Geschwistern (denen er nicht sehr nahe stand), war Balázs auch der erste, der Tritte, Ohrfeigen und Schläge durch seinen Vater einstecken musste - was erst weniger wurde, als seine Großmutter (Grüße vom Matriarchat) die Misshandlungsmarken entdeckte und dem Vater eine solch bedrohliche Ansage machte, dass er nun nur noch seinem Ärger Luft machte, ohne Spuren zu hinterlassen.
Klara hingegen wuchs wohlbehütet auf - keiner legte Hand an sie und sie verband eine tiefe Geschwisterliebe zu ihrem Bruder Frederik. Auch ihr soziales Umfeld war und ist ein Auffangbecken für sie und vor allem ihre Freundin Jasmin steht ihr sehr nah:
Sie waren die gegenüberliegenden Extreme eines Spektrums, alle anderen dazwischen waren durchdeklinierte Formen ihrer Selbst.
Jasmin war eine dankbare Zuhörerin, denn sie begeisterte sich für die Geschichten anderer in einem Ausmaß, als wäre es ihr dadurch möglich, das Geschilderte selbst zu erleben. Ihre Freundschaft fußte auf der aufrichtigen beidseitigen Neugier.
Doch auch in Klaras scheinbar heiliger Familienwelt war nicht alles eitler Sonnenschein:
Lange Zeit gab es nur sie, die Mutter und den Vater. Eine glückliche Kleinfamilie, untermauert durch alle gängigen Klischees. Ein abwesendes Familienoberhaupt, eine Frau neben ihm, die zumindest anfangs nicht viel hinterfragte und der es wichtiger war, wie sich die Tochter nach außen zeigte, als wie sie im Inneren fühlte, und die vierteljährlichen Ausflüge in die Kirche, um als anständige Bürger zu gelten.
Als Architekt war ihr Vater viel unterwegs und lebte für seine Projekte - wenn ein solches kurz vor der Fertigstellung stand, blieb er völlig ungreifbar für sie. Sie arrangierte sich mit ihrer Mutter in vertrauter Zweisamkeit und trotz aller Kompromisse und abgesteckten Wirkungsräume erschlaffte das Konstrukt der kleinbürgerlichen Familie und die Eltern gaben zu Klaras Überraschung nach zwölf Jahren Ehe die Scheidung bekannt. Den Auszug des Vaters bemerkte sie nur an fehlenden Barthaaren im Waschbecken und der stagnierenden Sammlung an Schlüsselanhängern und Plüschbären.
Es dauerte nicht lange , bis ihre Mutter neue heiratete und ihr Bruder Frederik auf dem Weg war. Klaras Rebellion, wie auch ihre Gefühle, blieben, wie auch später im Leben mit Balázs, eher nach innen gerichtet. Frederik schloss sie schnell ins Herz - weigerte sich aber, den neuen Mann zu akzeptieren.
Man kann einen Menschen und seine heutigen Verhaltensweisen nur vollends verstehen, wenn man weiß, wie er zu diesem Menschen geworden ist - demzufolge auch meine ausführliche Erläuterungen zum unterschiedlichen Aufwachsen und der Kindheiten von Balázs und Klara.
Klara war an diesem Abend geduldig neben ihm gesessen und hatte seinen Ausführungen gelauscht, sie war neidisch, mit welcher Herzlichkeit und Liebe er Momente seines Aufwachsens beschreiben konnte. Trotz allem. Neben den offensichtlichen Versäumnissen erahnte Klara eine zwischenmenschliche Tiefe, die sie stets vermisst hatte. Balázs ungarische Identität hatte Farbe, Geschmack, eine Gewohnheit, Melodie und Lautstärke. Klaras Aufwachsen war eine eindimensionale Schablone, ein austauschbares Klischee.
Klara ist beruflich erfolgreich als Architektin, eiferte ihrem Vater nach, doch struggelt in Liebesangelegenheiten und auch zunächst damit, sich ihrer Beziehung zu Balázs komplett hinzugeben, doch schließlich verliebte sie sich (er war da schneller) und alles nahm seinen Lauf: erste gemeinsame Momente, erste gemeinsame Wohnung und co - bis zum Tag X.
Dreimeterdreissig ist eine Reise, eine Reise hin zu einer aufblühenden Liebe und sie endet wie alle Reisen irgendwann enden, doch diese endet mit einem Knall und für immer. Ich habe die Reise, zu der mich Jaqueline Scheiber eingeladen hat, geliebt - mit all ihren Stationen, Bergen und Tälern, die wir sinnbildlich zusammen erklommen haben, mit ihren Ausflügen in die Gefühlswelten von Balázs und Klara, den lauen Sommerabenden, die wir zusammen genossen haben und dem Ende der Reise, das schmerzlicher nicht hätte sein können. Seid ihr bereit die Reise anzutreten?! Ich verspreche: Es lohnt sich!
Ein gelungener erster Roman von Jaqueline Scheiber - den ich sehr gerne gelesen habe, von dem ich mir nur an der einen oder anderen Stelle etwas mehr psychologische Tiefe gewünscht hätte, bzw. ein Psychogramm von Klara und Balázs, denn ich wäre gerne noch mehr in ihre Köpfe und damit Gefühlswelten eingedrungen.
Weiter so, Jaqueline Scheiber - ich bin gespannt, was als Nächstes kommt und eins ist sicher: Ich werde es auf alle Fälle lesen!