Besprechung vom 24.03.2025
Plötzlich alles Barbaren
Der dritte Kriminalfall des Igels Jefferson
Mit Grenzen ist es oft so: Sie existieren vor allem im Kopf. Jean-Claude Mourlevats Kopf allerdings scheint davon ausgenommen. So ist der französische Schriftsteller und Astrid-Lindgren-Preisträger imstande, über Realitäten, Regeln und Rahmen hinauszudenken, was eine gute Voraussetzung für einen Kinderbuchautoren ist. Das eigentlich Faszinierende ist aber, dass daraus gar kein hyperfantastisches Absurditätsabenteuer entwächst. Sondern: Die Geschichte eines durchaus gesitteten Igels namens Jefferson, der Geographie studiert und sich - nach zwei erfolgreich gelösten Kriminalfällen - im dritten Band der nach ihm benannten Buchreihe eigentlich nur darauf freut, im nächsten Semester sein Exzellenzstipendium im Land der Menschen wahrzunehmen.
Gäbe es da nicht ein neues Rätsel, das wie durch Zufall vor Jeffersons Füße fällt. Und weil Mourlevats Kopf keine Grenzen zu kennen scheint, und auch keine Wände, schon gar keine vierten, eröffnet er die Spurensuche seines Protagonisten mit einer für einen Kriminalroman klassischen Szene, die er erklärend ankündigt: "In Romanen und Actionfilmen ist es ja oft so: Zunächst scheint alles ruhig zu sein . . ."
In Jeffersons Fall unterbricht die Ruhe ein Stiefel, den er beim Schneeschippen mit seinem besten Freund, dem Schwein Gilbert, entdeckt. Wie es sich für einen Stiefel gehört, steckt in ihm ein Kater. Es ist ihr Freund Emil, der gehörlose und korpulente Fotograf, der in vergangenen Abenteuern noch als treuer Gefährte an ihrer Seite war - und nun bewusstlos zusammengeschlagen vor ihnen im Schnee liegt. Umso entschiedener nehmen Jefferson und Gilbert die Fährte nach seinen Angreifern auf.
Das tun sie zwar mit ambitioniertem Ernst, überhastet wirken sie dabei aber nie. In großen Teilen liegt das an der Sprache, die Mourlevat so gekonnt einzusetzen weiß und Edmund Jacoby ebenso elegant ins Deutsche übersetzt. Sie ist angenehm ausgeruht, aus vielen Sätzen meint man, ein kleines Lächeln herauszuhören.
Skurriles entfaltet sich oft in angehängten Halbsätzen, kleinen Bemerkungen, Urteilen und Charakterisierungen, die Mourlevat fast versteckt einflechtet. Sein feiner Humor dreht nie ab, sondern entfaltet sich auf wunderbar ironische Weise und bleibt dabei unaufdringlich und mühelos. Zum zweiten Mal fragt Gilbert am Krankenbett von Emil, was der Gerichtsmediziner denn nun gesagt habe, bevor Jefferson seinen Freund einfängt: "Du siehst doch, dass Emil noch lebt. Lebst du noch, Emil?"
Den Tieren sind die Probleme der Menschen nicht fremd, viele davon teilen sie sogar, ohne dass sie dabei zu vermenschlichen drohen. So bekommt Jefferson zwar die Wohnungsnot im Menschenland zu spüren, während er für sein Stipendiat nach einem Zimmer sucht, freut sich aber umso mehr, als er neun Quadratmeter - viel Platz für einen Igel - zum guten Preis findet. Und als die Ermittlungen zunächst auf ein Schwein als Täter hindeuten, taucht Gilbert für ein paar Tage ab. Man wisse ja, wie das ist, sagt er später. Die Leute seien nun mal so, plötzlich gälten alle Schweine als Barbaren.
Es sind vertraute Sorgen, vertraute Schwächen der Gesellschaft, die Mourlevat aufzeigt. Und doch stülpt er sie seinen Protagonisten nicht einfach über: Die Tiere haben ihr eigenes Land, angrenzend an das der Menschen, misstrauen ihnen zuweilen, doch kooperieren auch mit den Menschen, leben überwiegend friedlich nebeneinander her. Diesen Status quo etabliert Mourlevat mit einer Selbstverständlichkeit, die charmant wie vereinnahmend ist - eben gerade weil es Reales so unverkrampft mit Phantastischem verbindet.
Bis zum Ende bleibt die Geschichte dadurch spannend, wobei ihr Protagonist immer liebenswürdiger wird. So folgt man ihm auch gern bis tief in den Wald. Ihre Spur führt die Tiere zu einer mysteriösen Anlage, abgeriegelt von einem hohen Zaun. Und es ist Gilbert, der intuitiv die wichtigste Frage stellt: "Wozu soll bloß dieses Ding gut sein?" Schließlich stünden dahinter doch dieselben Bäume. ANNA NOWACZYK
Jean-Claude Mourlevat: "Jefferson ärgert sich". Roman.
Aus dem Französischen von Edmund Jacoby. Jacoby & Stuart, Berlin 2025. 208 S., geb., 16,- Euro. Ab 10 J.
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