Besprechung vom 17.09.2020
Nur Realität, keine Wahrheiten, bitte!
In ihrer fein komponierten Milieustudie "Privateigentum" dekonstruiert die Pariserin Julia Deck neubürgerliche Vorstellungen vom richtigen Leben.
Ich transkribiere nicht, ich konstruiere!", hielt der französische Romancier Alain Robbe-Grillet den Kritikern des Nouveau Roman einst entgegen. Nicht Realismus oder gar Verismus, sondern allein die Realität müsse Gegenstand der Literatur sein, heißt es in seinem 1955 erschienenen Aufsatz "Du réalisme à la réalité". Eindeutig gezeichnete Figuren, eine kohärente Handlung und eine konsistente Erzählinstanz erklärten Robbe-Grillet und seine Mitstreiter im prestigeträchtigen Verlagshaus Les Éditions de Minuit, Nathalie Sarraute, Claude Simon oder Michel Butor, damals zu "überkommenen Begriffen". Die Literatur übertrage nicht Phänomene der Realität in Sprache, sondern ordne vielmehr das Chaos der Welt und die multiplen Perspektiven auf sie in einen Kontext ein, der die Bezeichnung "Realität" überhaupt erst verdiene.
In Zeiten, in denen Wahrheit und Realität vielerorts synonym verwendet werden, ist dieser literarische Ansatz, der die Widersprüchlichkeit und Vorläufigkeit aller Weltbetrachtung immer mitdenkt, hochaktuell. "Ich rationalisiere keine Gedankenflüsse, die nicht rationalisierbar sind", gab unlängst die französische Autorin Julia Deck zu Protokoll. Deck gilt als virtuoseste zeitgenössische Vertreterin der "École de Minuit". Anders als ihre Vorgänger verankert die 1974 in Paris geborene Autorin ihre Romane allerdings in einem greifbaren Hier und Jetzt. Ihr 2013 auf Deutsch erschienener Erstling "Vivianne Elisabeth Fauville" etwa erzählt von einer alleinerziehenden Mutter, die im Wutrausch ihren Psychiater ersticht, wobei die Schilderung aus fünf verschiedenen Perspektiven erhebliche Zweifel am "realen" Ablauf des Geschehens hinterlässt. Julia Deck erzählt von Frauen, die aus Erwartungen, Rollenbildern und Fremdbestimmung ausbrechen, um sich alternative Identitäten und Realitäten zu erschaffen.
Auch in "Privateigentum", Decks drittem ins Deutsche übersetzten Roman, geht es um ein Verbrechen und um eine Frau, die mit aller Gewalt versucht, die Wirklichkeit nach ihrer Vorstellung zu interpretieren. Eva Caradec, eine erfolgreiche Urbanistin Anfang fünfzig, hat genug vom Leben in der Pariser Innenstadt und erfüllt sich mit ihrem Mann Charles endlich den Traum vom Eigenheim jenseits der Stadtgrenze. Ihre hochpreisige Ökowohneinheit in einer aufwendig sanierten Speicherstadt mit Solarstrom, Kompostbecken, Biogasheizung und Gemüsegarten untermauert Evas und Charles' "Triumph, unseren Aufstieg zum Privateigentum". Spätestens als die anderen Eigentümer einziehen und Eva im Vorort-Supermarkt keinen Schafsmilchjoghurt für ihren maladen Ehemann findet, kippt das neubürgerliche Glücksszenario allerdings in einen Albtraum: Die Hölle, das sind die Nachbarn, und im Vorort gibt es zwar jede Menge Grün, aber "nicht genug Platz, damit jeder so leben konnte, wie er wollte". Eine massakrierte Katze, eine vermisste, vermutlich ermordete Nachbarin sowie ein ausgebranntes Doppelhaus stehen am Ende dieser bitteren Erkenntnis.
Julia Deck legt zahlreiche Fährten aus, wie es zu diesen kuriosen Unglücksfällen kommen konnte, konterkariert diese aber sogleich mit alternativen Versionen des Geschehens. Den offensichtlich tendenziösen Monolog, den Decks Ich-Erzählerin Eva an Charles richtet, liest man als Spiegel ebenjenes Selbstbetrugs, der unweigerlich in den Abgrund führt: "Ich dachte, dass wir wirklich Grund hatten, glücklich zu sein, es sprach einfach alles dafür." Wären da nur nicht die anderen. Nicht nur streikt die brandneue Bioheizungsanlage, auch die Nachbarn entpuppen sich nach und nach als ideale Projektionsfläche für das eigene Lebensunglück.
Annabelle Lecoq etwa ist Agentin in der Immobilienagentur ihres Mannes Arnaud, sorgt mit ihren "Mikroshorts" für Aufsehen bei den männlichen Anwohnern und inszeniert sich als perfekte Mutter und wilde Partymaus zugleich. Ihr Kater streunt im Garten der Caradecs umher, und die Bauarbeiten an ihrer neuen Terrasse stören die himmlische Ruhe im Viertel. Die Lecoqs führen Böses im Schilde, da sind sich Eva und Charles Caradec sicher: "Sie hofften nicht darauf, dass wir umzogen. Sie wollten uns leiden sehen, uns am Denken hindern, am Lieben. Sie wollten das komplexe Konstrukt unseres Bündnisses zerstören. Sie planten unsere totale und endgültige Vernichtung", monologisiert Eva, wobei da längst klar ist, dass sie als Erzählerin höchst unzuverlässig ist und vor allem die Absicht verfolgt, ihre Affäre mit Arnaud Lecoq als hinterhältige Verführung auszugeben.
Den Vorwurf des akademischen Elitismus, den man dem Nouveau Roman oft machte, widerlegt Julia Deck trotz der anspruchsvollen Architektur ihres Romans durch eine subtil-ironische und immer konkrete Gesellschaftskritik. Als Urbanistin entwickelt Eva gegen den sozialen Verfall am Stadtrand etwa das herrlich unsinnige Konzept des "unbestimmten Raums", das eine "dichte, aber leichte Bepflanzung" vorsieht und mit auswechselbaren Materialien arbeitet, "so dass die Anwohner selbst entscheiden können, wie sie den Raum nutzen wollen". Zugleich verkauft der Immobilienmakler Arnaud, der "wirkte wie jemand, der nicht den leisesten Selbstzweifel hatte", eine marode Erdgeschosswohnung, deren Käufer darauf setzt, "dass seine Investition sich dadurch rentieren werde, dass er die Wohnung an arbeitende Immigranten vermietet".
Eigentum, so scheint es bei Julia Deck, verpflichtet nicht, sondern berechtigt vielmehr zur bedingungslosen Verteidigung der eigenen Bedürfnisse. Die innere Verlorenheit derjenigen, die um jeden Preis die Kontrolle über ihr kleines Glück bewahren wollen und genau daran zugrunde gehen, ist in diesem Roman nirgends explizit formuliert, aber überall präsent. Ihren erklärten Vorbildern vom Nouveau Roman ist Julia Deck in dieser Milieustudie in Thrillerformat treu geblieben. Sie erzählt nicht von einer kohärenten Realität, sie deklamiert keine Wahrheiten, sondern erschafft durch die Struktur ihrer Erzählung erst eine widersprüchliche Version der Welt da draußen. Der Wagenbach-Verlag veröffentlicht das schmale, von Antje Peter vortrefflich übersetzte Buch in seiner Reihe "Romane für eine Nacht". Julia Decks Kammerspiel über ein zutiefst verunsichertes Kleinbürgertum, dem jede gesellschaftliche Solidarität abhandengekommen ist, beschäftigt weit darüber hinaus.
CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Julia Deck:
"Privateigentum". Roman.
Aus dem Französischen von Antje Peter. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020.
140 S., geb.
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