Juri Felsen, der einst als »russischer Proust« galt, war einer der führenden Schriftsteller seiner Generation. Beeinflusst von Marcel Proust, James Joyce und Virginia Woolf ist Juri Felsen ein Autor von Weltrang. Juri Felsen wurde von den Nazis ermordet, sein Werk war lange vergessen, bis es in den letzten Jahren wiederentdeckt und nun zum ersten Mal auf Englisch und Deutsch veröffentlicht wird.
Wir treffen unseren namenlosen Erzähler im Paris der Zwanzigerjahre, wo er sich nach der Russischen Revolution als Emigrant wiederfindet. Auf Bitten einer Bekannten lernt er die schöne, kluge und gesellige Ljolja kennen, die ebenfalls gerade aus Russland geflohen ist. Was als lockere Freundschaft beginnt, verwandelt sich schnell in Faszination und Besessenheit, da sie uneindeutige Signale sendet und anderen Männern nachstellt.
Während Ljolja weiterhin ein Leben führt, das nicht von den Kräften der gesellschaftlichen Konvention und der Geschichte beeinträchtigt wird, werden die in Tagebuchform geschriebenen Enthüllungen unseres Erzählers immer schmerzhafter, vertrauter und reich an psychologischer Introspektion.
Besprechung vom 12.03.2025
Liebesleid um Ljolja
Juri Felsens erster Roman "Getäuscht"
Die große Zeit der italienischen Literatur war 2024 mit der Frankfurter Buchmesse. Ein Name fehlte damals weitgehend: Italo Svevo. Der 1861 in Triest geborene Schriftsteller mit jüdischen Wurzeln hatte mit seinen ersten Romanen die Kritik, aber nicht die Leserschaft auf seiner Seite. Das änderte sich, als er 1905 James Joyce kennenlernte, der ihn zum Weiterschreiben ermutigte. "Zenos Gewissen" entstand, das Meisterwerk Svevos. Dessen Protagonist Zeno Cosini hat Schopenhauer im Gepäck, ist von notorischer Unentschlossenheit und weiß genau: "Ohne ein Redner zu sein, hatte ich die Wortkrankheit" - so in der vorzüglichen Übersetzung Barbara Kleiners zu lesen.
Als nach der Oktoberrevolution ein Großteil der russischen Intelligenzija ins Exil ging, waren Berlin und Paris die Städte der Wahl, die Cafés in Montparnasse wurden zum Wohnzimmer für exilierte Schriftstellerkreise. Dort traf die Literatin Nina Berberova, wie sie in ihrer Autobiographie "Ich komme aus St. Petersburg" festhält, den abgemagerten Vladimir Nabokov, der einen Anzug Sergej Rachmaninows auftrug. "Einmal nahm Juri Felsen an unserem Gespräch teil, aber ich fürchte, er kam nicht dazu, auch nur ein einziges Wort zu sagen, dazu haben wir ihm keine Gelegenheit gegeben."
Nabokov ist einer der Kronzeugen, der für die literarische Qualität des 1894 als Nikolai Freudenstein geborenen Felsen angeführt wird. Er sei für den jungen Literaten ein ebenso großer Einfluss gewesen wie Proust oder Joyce. In der Tat hält "Getäuscht" von 1930 in Tagebuchform die Gedanken eines namenlosen Erzählers fest, der in den Zwanzigerjahren im Pariser Exil lebt. Der Erzähler ist besessen von Ljolja, die aus Berlin kommt, wieder geht und abermals kommt. Noch bevor er sie trifft, liebt er sie schon oder bildet es sich ein. Denn Ljolja ist selbstbewusster, als er sich das ausgemalt hat, eignet sich vortrefflich als Folie für die Leidensszenarien, aber nicht zur realen Liebe. Dafür ist der Erzähler zu überzeugt von sich, zu chauvinistisch. Eine konkrete Begegnung, "und unsere neue Freundschaft kommt mir wie ein Freiheitsverlust vor, unerträglich und ermüdend". Deutlich angenehmer sind für ihn als "Nichtstuer" die "zahllosen imaginären Begegnungen mit Ljolja".
Das führt zur Krux des Romans. Felsen übernimmt von Proust und Joyce den Bewusstseinsstrom, doch bei ihm duften keine Madeleines, wird kein Martello Tower bewohnt. Das fast vollständige Ausblenden des Alltags lässt den Protagonisten nur um sein Leid kreisen. Reicht der reale, durch eine Abfuhr ausgelöste Schmerz nicht aus, dann heißt es, "auf Ljoljas verständnislose Herzlosigkeit gefasst zu sein, mich in Zukunft unkorrigierbar und grässlich von ihr demütigen zu lassen", dann muss er sich in "unrealistischen nächtlichen Phantasien" seine Qualen holen, das gilt ihm als Treue zu seiner "menschlichen Bestimmung", in der bisher nichts "Unrichtiges" entdeckt wurde.
Liebesleid und Imagination lassen sich als Chiffre für die grundsätzliche Unbehaustheit und Einsamkeit des Menschen lesen. Die Eintönigkeit bleibt. Und sprachlich wird nicht wettgemacht, was inhaltlich fehlt. Rosemarie Tietze hat eine vorzügliche Übertragung vorgelegt und die elend langen Sätze souverän ins Deutsche gebracht. In ihrem klugen Vorwort weist sie darauf hin, dass Felsen seinen Roman vielfach überarbeitet und am Stil gefeilt habe, die "Attribut-Reihen mögen hie und da sperrig wirken", seien aber gewollt.
In ihrem Vorwort geht Tietze auch auf die Situation der ersten russischen Emigration ein. Die ältere Generation konnte ihren literarischen Ruf mit ins Exil nehmen, Iwan Bunin erhielt 1933 den Nobelpreis. Die jüngere dagegen ging in den Zeitläuften unter. Für Felsen dürfte das unbedingt gelten. Veröffentlichungen von Erzählungen und Literaturkritiken folgten schließlich drei Romane, der letzte 1936. Im Jahr 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert, wo er starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich niemand für sein Werk interessiert, in der Sowjetunion galt die Exilliteratur nicht als russisch, der Antisemitismus dort tat ein Übriges, obendrein war Felsen, wie es der Übersetzer der englischen Fassung des Romans von 2022 formuliert, ein "antitotalitärer Schriftsteller", der sowohl gegen den Faschismus als auch gegen den Bolschewismus Position bezogen und sich für Individualität starkgemacht habe; erst seit 2012 gibt es eine russische Gesamtausgabe. All dies legt den Wunsch nach Begeisterung für das Werk nahe - das aber kaum mehr bietet als einen Protagonisten, der zwischen Größenwahn und Leidenssucht pendelt. Es heißt, Felsen habe ständig mit dem Stift dagesessen. Vielleicht litt er an Schreibsucht - die "Wortkrankheit" Zeno Cosinis hatte er nicht. CHRISTIANE PÖHLMANN
Juri Felsen: "Getäuscht". Roman.
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 272 S., geb.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.