Wenn Frauen erzählen, geht es oft um Aufbrüche aus lähmenden Situationen. In Kristine Bilkaus Roman tritt Annett, die Ich-Erzählerin, auf der Stelle. Sie ist Bibliothekarin in einer norddeutschen Stadt am Meer. Sie hat Job-Portale mit Stellenanzeigen aus aller Welt abonniert, liest sie und tut nichts. Linn, ihre 25-jährige Tochter, engagiert sich beruflich und privat für den Umweltschutz. Sie kehrt nach einem Unfall bei einem Vortrag zur Genesung in ihr altes Zuhause zurück. Aber aus den paar Tagen wird ein ganzer Sommer, in dem sich das Leben von Mutter und Tochter wandelt. Ein Aufbruch.
Annett ist mit dreißig Witwe geworden. Ihr Mann sei nicht vom Laufen zurückgekommen, so umschreibt sie seinen Tod - ein Indiz, dass sie auch viele Jahre danach damit nicht abschließen kann. Die Beziehung zu ihrer Tochter ist intensiv. Aber vieles bleibt ungesagt. Die Balance zwischen Fürsorge, Verantwortung und Freiheit wird oft thematisiert. Das Loslassen ist ein spannungsvoller, schwieriger Prozess.
"Trotzdem, das Großziehen eines Kindes glich einem Bergaufstieg, mit aller Kraft hatte ich meine Tochter hochgehievt, um ihr die Chance zu geben, weiterzukommen als ich. Damit sie es leichter haben würde, bei allem was ihr wichtig wäre. Und sie? Ließ sich einfach wieder herunterrutschen, hockte sich neben mich und sagte, zu anstrengend, und außerdem nicht so wichtig."
Linn ist nach dem Ausstieg aus dem Job in einer Krise. Den Aufstiegswillen der Mutter kann sie nicht mehr teilen. Der gesellschaftliche Optimismus ist ihr abhandengekommen. Mit dem Ausstieg der Tochter aus der Leistungsgesellschaft öffnet sich der Roman zu einem aktuellen Bild der Zeit. Unterschiedliche Generationen haben unterschiedliche Erwartungen, machen Fehler. Am Ende gelingt es, Gegenwart und Vergangenheit zumindest im Privaten zu versöhnen. Die Zukunft bleibt ungewiss.
Kristine Bilkau verbindet die Beziehungsthematik sehr schlüssig mit den Problemen, vor denen die Welt steht. Der Vortrag Linns findet in einem Hotel statt, das Workouts zum Kompostieren und Wildkräuterkurse anbietet, andererseits Teil einer Holding ist, die offenbar mit CO2-Zertifikaten Emissionshandel betreibt.
Literarische Anspielungen auf Ibsens "Volksfeind", der unangenehme Wahrheiten ausspricht, und Verweise auf den Untergang von Zivilisationen (Storms Schimmelreiter, Liliencrons versunkenes Rungholt) illustrieren die Thematik, auf die es Bilkau ankommt. Annett nimmt einen Ziegelstein aus der versunkenen Stadt im Watt mit nach Hause, erkennt aber bald darauf, dass der Überrest einer Katastrophe nicht als Souvenir taugt.
Ein leiser Roman, der überzeugt. Auf der Shortlist für den Buchpreis der Leipziger Buchmesse 2025.