Besprechung vom 12.11.2020
Milchtüte trifft Pseudoluchs
Nicht zielführend, aber extraordinär: Laura Lichtblau debütiert mit dem Roman "Schwarzpulver".
In den Rauhnächten zwischen Weihnachten und Dreikönig steht nach altem Volksaberglauben das Geisterreich offen: Menschen verwandeln sich in Werwölfe, Tiere beginnen zu sprechen und ihre Peiniger anzuklagen, die "Wilde Jagd" fährt über den Himmel. Laura Lichtblau zitiert in ihrem ersten Roman wiederholt Mythen von vogelwilden Geistern zwischen den Jahren, aber von heidnischen Altertümern kann hier und jetzt, in Berlin zwischen Weihnachtsfeier und Silvesterparty, keine Rede sein: "Schwarzpulver" ist eine noch gut erträgliche Dystopie aus der näheren Zukunft, eine eher zahme Jagd durch die schwarzen Gedanken der Generation Praktikum.
An den Hebeln der Macht sitzt nämlich "die Partei", eine krude Kombination aus FPÖ und AfD, österreichischem Gemütlichkeitsterror und deutschem Protofaschismus, die gegen Frauen, Linke und alles hetzt, was queer, trans, psychisch krank, divers oder anders widerständig ist. Rechte "Parteimanschgerl" hassen das, was freien Geistern lieb und teuer ist: alleinerziehende Mütter, Frauen, die Frauen lieben, Männer mit Lipgloss, Verrückte, Hiphop, Anglizismen, Döner Kebab und Ausländer überhaupt. Sie mögen keine Frauen, die erfolgreicher als Männer sind, und auch keine übergewichtigen Frauen, die sich "dem Begehren der Männer böswillig entziehen und so die Volksgesundheit und deren Fortbestand gefährden". Frauen, so befiehlt die Partei, "sollen wieder Frauen sein, weich, tröstlich und ab und zu ein wenig frech, wie kleine Kätzchen. Musen, Mütter, Menschen, die das Leben einfach . . . schöner machen."
Vegane Hochzeiten und Achtsamkeitskurse
Zur Unterdrückung allfälligen Widerstands und Hebung gerade des weiblichen Sicherheitsgefühls hat die Partei eine Bürgerwehr ins Leben gerufen, in der dann sogar Frauen wie Charlotte mit der Waffe in der Hand auf Hochhausdächern lauern dürfen. Charlotte ist alleinerziehende Mutter und Präzisionsschützin. Sie liebt vegane Hochzeiten, Yoga- und Achtsamkeitskurse, säuft heimlich und steht mit einem Fuß immer in der Psychiatrie. Aber zu ihrer Derealisationspsychose gehört auch, dass sie den Dienst in der Bürgerwehr irgendwie für voll krass und bewusstseinserweiternder als Drogen hält.
Charlotte ist keine sehr glaubwürdige Figur, aber immerhin aufregend widersprüchlich. Von den beiden anderen "Schwarzpulver"-Protagonisten kann man das eher nicht behaupten. Charlottes Sohn Charlie ist ein ständig bekiffter Praktikant bei einem pseudorebellischen Berliner Musiklabel, das Hiphop-Stars wie Kraftausdruck, Traumatruppe, Hurengott oder Sozialdilemma unter Vertrag hat. Bei einem Betriebsfest kommt er seinem Idol, dem stets maskierten Pseudoluchs, näher, aber Charlie bleibt doch vor allem "kleine Milchtüte", Mamas Liebling. Burschi wiederum ist eine junge Lesbe, die ein großbürgerliches Ehepaar pflegt und ohne deren Wissen den Hausrat bei Ebay verscherbelt. Man will sie heteronormativ umdrehen und auf dem Brandenburger Apfelquetschfest einsetzen, aber Burschi wusste schon als Kind, was sie wollte: "Ich mochte aussehen wie ein Rauschgoldengel, aber meine Sicht auf die Dinge war pechschwarz."
Eine linksalternative Helikoptermutter zwischen Bürgerwehr, Misteltherapie und Klapse, ihr eher unbedarfter Sohn und die "schönste Krawallschwester Berlins": Das kann nicht gutgehen. Charlotte schießt ins Blaue und trifft ins Pechschwarze. Vielleicht machte sie aber auch nur auf Lady Gaga und Wilde Jagd, um Partei und Psychiatrie zu täuschen: "Sie wollen mich brechen, damit ich mich dann neu erfinde." So ergibt "Stück für Stück Sinn, was mir immer wie ein beinahe obszönes chaotisches Strudeln erschien: mein Leben eben. Ich hatte mich redlich darum bemüht, es im Griff zu behalten, aussichtslos."
Wie eine Injektion aus Brennnessel und Strom
Die fünfunddreißigjährige Berliner Autorin mit dem Künstlernamen Laura Lichtblau hat bisher vor allem Gedichte und Texte für "Spex" geschrieben, und das merkt man den steilen Metaphern und poetischen Innovationen ihres ersten Romans auch an; Nora Gomringer hat die Sprache ihrer Kollegin in einem Blurb mit einem dreifachen "Wow" gewürdigt. Manchmal liest sich "Schwarzpulver" wie das Tagebuch einer diversen Aktivistin, dann wieder wie ein Poesiealbum aus Neukölln; dazwischen werden immer wieder Erinnerungen an eine bayerische Kindheit gestreut: Fasching, Faschos und frühe Kritik der Geschlechterrollen zwischen "Saubuam" und Madeln. Charlotte benutzt exzessiv verräterische Bürokratenwörter wie "zielführend" und "zweckdienlich", die Träumer sind und reden notorisch extraordinär. Gefühle brennen "wie eine Injektion aus Brennnessel und Strom", die Zeit wird "krankenhausreif" geschlagen, Jugendliche machen einen "übelst nicen Joke": Da kann man schon mal zwei Tränen auf huggelige oder "bärbeißige Straßen" drücken. Die geborene Münchnerin Laura Lichtblau ist offensichtlich bei österreichischen Autorinnen in die Schule gegangen, aber die provozierende Schärfe und den Wortspielwitz einer Jelinek oder auch Stefanie Sargnagel erreicht sie doch eher selten.
"Schwarzpulver" ist eine Sammlung von Kreuzberger Nächten, wohlfeiler Politsatire und energischer Frauenpower. Es raucht und knallt, aber es zündet nicht so recht: Die Wilde Jagd in den Rauhnächten verpufft in Silvester-Tischfeuerwerken gegen rechts, "getanzten Blockaden" und Aufzeichnungen aus den Abgründen des Berliner Prekariats. "Und du riechst immer noch nach Schwarzpulver", heißt es ganz am Ende, "nach schattigen Orten, nach langsam entstehendem Aufruhr."
MARTIN HALTER
Laura Lichtblau:
"Schwarzpulver". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2020. 202 S., geb.
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