Besprechung vom 12.05.2019
Es ist einfach nie genug, nie
Schon Leïla Slimanis erster Roman über eine Nymphomanin zeigt, wie großartig sie ist
Man muss sich, wenn man "All das zu verlieren" zu lesen beginnt, den neuen Roman von Leïla Slimani, vor Augen halten, dass sie mit diesen ersten Sätzen die Literatur betrat. Denn in Wirklichkeit ist es ja gar nicht ein neuer Roman. Es ist ihr erster, der jetzt, da die marokkanisch-französische Schriftstellerin über die Grenzen Frankreichs hinaus berühmt geworden ist, nachgeliefert wird. Leïla Slimani war 2014 auf einmal da mit einer Sprache - klar, hart, fast atemlos und zugleich berührend -, mit der sie sofort einen völlig eigenen Ton gefunden hatte. Und sie fiel auf mit einem Sujet, das den Erwartungen zuwiderlief. Sie schrieb (denn darum geht es in "All das zu verlieren") über eine sexsüchtige Frau. Eine, die gar nicht anders kann, als sich immerzu auszuliefern und zu verausgaben, sich zu verletzen und sich verletzen zu lassen, ruhelos, getrieben, die überall mit Männern schläft und immer härter, während sie zugleich ein bürgerliches Leben führt, in Paris als Journalistin arbeitet, mit einem Arzt verheiratet ist, der von ihrer Nymphomanie nichts weiß und mit ihr einen kleinen Jungen hat.
"Warum haben Sie Ihr erstes Buch über eine Nymphomanin geschrieben?", wurde sie gefragt, als sie den renommierten Prix Goncourt für ihren Roman "Dann schlaf auch du" schon gewonnen hatte. Und Leïla Slimani fragte zurück: "Warum nicht?" Von Anfang an habe sie keine Lust gehabt auf "diese Idee der Frau als positive Figur", sondern habe über eine Frau schreiben wollen, die feige sei und schwach, die lügt und zerstört. "Nur wusste ich lange nicht, was der Motor meiner Antiheldin sein könnte." Dann habe sie eine Dokumentation über Dominique Strauss-Kahn und dessen Sexsucht gesehen. "Und da wusste ich, dass ich über eine Frau schreiben will, die unter diesem Zwang leidet." Sie habe viel recherchiert, viele Berichte gelesen, mit Betroffenen in Foren gesprochen. Die Verzweiflung dieser Menschen sei entsetzlich. Sie verspürten ständig den Drang, von einem anderen Körper gepackt zu werden, müssten sich fühlen und empfänden dabei am Ende aber überhaupt nichts. "Es ist einfach nie genug, nie."
Der Hinweis auf Dominique Strauss-Kahn, den sie damals selber gab, kommt einem, wenn man "All das zu verlieren" jetzt liest, fast ein bisschen komisch und eigentlich auch irreführend vor. Der ehemalige IWF-Chef, dem vor seinem Sexskandal im Jahr 2011 sogar Chancen auf das französische Präsidentenamt eingeräumt worden waren, wurde während einer privaten Reise am John-F.-Kennedy-Flughafen in New York wegen des Vorwurfs versuchter Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Freiheitsberaubung eines Zimmermädchens des New Yorker Hotels "Sofitel" festgenommen. Und um Vergewaltigung und Freiheitsberaubung geht es in dem, was Leïla Slimani schildert, eigentlich nicht. Adèle, wie ihre weibliche Hauptfigur heißt, hat innerhalb des Kontextes, in dem sie arbeitet, keine Machtposition inne und bringt nicht andere unter ihre Kontrolle, indem sie ihnen Gewalt antut (die Strauss-Kahn abstritt und für die er strafrechtlich nicht belangt werden konnte). Vielmehr lässt sich das, was sie vollzieht und was Slimanis Roman seriell schildert, eher in der paradoxalen Figur der versuchten Selbstermächtigung durch Selbsterniedrigung beschreiben: Adèle erobert reihenweise Männer. Aber es ist eben nicht nur der befreundete Kollege, durch den ihr Doppelleben irgendwann auffliegt. Es sind auch bezahlte Männer, von denen sie sich brutal schlagen lässt: "Sie war es, die gesagt hat: ,Das reicht nicht', die geglaubt hatte, mehr ertragen zu können. Fünfmal, vielleicht zehn-, hat er ausgeholt und sein spitzes knochiges Knie auf ihre Scheide krachen lassen." Oder, schon früher, noch bei ihren Eltern, der Nachbar aus dem achten Stock, "der so fett ist, dass Adèle Mühe hatte, sein Glied unter den Falten seines Bauches zu finden. Sein Glied, das schwitzte unter seinem Fett und glühte vom Scheuern der enormen Schenkel."
Als Leïla Slimani, die in Rabat aufwuchs, nach der Schule zum Studium nach Paris ging und später als Journalistin für die Zeitschrift "Jeune Afrique" über nordafrikanische Themen berichtete, ihren ersten Roman veröffentlicht hatte, ging sie auch auf Lesereise nach Marokko. Damals kamen Frauen auf sie zu und erzählten ihr von ihrem Verhältnis zum Sex. Obwohl sie in den Städten lebten und emanzipiert waren, fühlten diese Frauen sich nicht frei. Es gibt immer noch Gesetze, nach denen Menschen für vor- oder außerehelichen Sex eingesperrt werden können. Sie werden selten angewandt, aber sie sind da. Und so berichteten ihr die Frauen, wie sie unter dem ständigen Versteckspiel litten. Manche hatten sich sogar ihre Jungfräulichkeit zurückbilden lassen, um einen Ehemann zu finden.
"Sex und Lügen" heißt das Buch, das Leïla Slimani aus diesen "Gesprächen mit Frauen aus der islamischen Welt" gemacht hat und das bereits im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienen ist. Erst jetzt wird deutlich, in welchem Zusammenhang die Begegnungen mit diesen Frauen, die, zerrissen zwischen Tradition und Religion auf der einen Seite und dem Wunsch nach Selbstbestimmung auf der anderen, ein Doppelleben führen, mit Slimanis erstem Roman stehen. Wie aus "All das zu verlieren" also auch die politische Stimme der Autorin hervorgegangen ist, die man in ihren Essays und Kolumnen findet (parallel zum Roman erscheint jetzt ein kleiner Essay-Band unter dem Titel "Warum so viel Hass?").
Auch auf Adèle hat Leïla Slimani in ihrem "Sex und Lügen"-Buch Bezug genommen. Denn für sie steht ihre weibliche Hauptfigur, die im Roman maghrebinische Wurzeln hat, für Marokko und seine Schizophrenie. Das Ehe-, Familien- und Erbrecht beruht noch immer auf der Scharia. Zugleich sind die Marokkaner große Pornokonsumenten. Abtreibungen sind verboten. Slimani zufolge werden davon täglich aber um die 600 vorgenommen. "Mein erster Roman", schreibt sie in "Sex und Lügen", "ist deshalb keine Ausnahmeerscheinung. Ich würde sogar sagen, es ist kein Zufall, dass ich eine Frau wie Adèle erschaffen habe: eine frustrierte Frau, die lügt und ein Doppelleben führt. Eine Frau, die von Gewissensbissen und ihrer eigenen Unaufrichtigkeit zerfressen ist, die Verbote umgeht und keine echte Lust empfindet. Adèle ist in gewisser Weise eine etwas überspannte Metapher für die Sexualität junger Marokkanerinnen."
Das mag stimmen. Nur in einer Sache hat sie nicht recht: Ihr erster Roman ist sehr wohl eine Ausnahmeerscheinung. Und das liegt vor allem an ihrer Sprache: diesem schnellen, direkten Slimani-Ton, der auf Umschweife gerne verzichtet.
JULIA ENCKE
Leïla Slimani: "All das zu verlieren". Roman. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand, 224 Seiten, 22 Euro. Gleichzeitig erscheint im btb-Verlag ein kleiner Band mit Kolumnen und Essays: "Warum so viel Hass?" (64 Seiten
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.