Besprechung vom 28.02.2020
Ein Leben in Metamorphosen
Der Aal gibt der Wissenschaft immer noch Rätsel auf. Patrik Svensson erkundet dieses seltsame Tier und landet schließlich bei der Frage nach Gott.
Im Jahr 1876 traf ein Wiener Zoologie-Student in Triest ein, um ein Rätsel zu lösen. Sein Forschungsgegenstand war ein Fisch, dessen Mysterium nicht nur Biologen, sondern auch Dichter und Philosophen fesselte - der Europäische Aal. Lange Zeit wusste man so gut wie nichts über dieses Tier, selbst die Umstände seiner Fortpflanzung lagen im Dunkeln. Dann wurden im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert Aal-Weibchen erstmals eindeutig identifiziert und adäquat beschrieben. Von Männchen fehlte weiterhin jede Spur. Das sollte sich in Triest ändern. Rund vierhundert Aale hat der Nachwuchswissenschaftler aufgeschnitten und durchs Mikroskop betrachtet, doch Keimdrüsen entdeckte er keine. Es ist höchst ironisch, dass ausgerechnet dieser Mann ausgerechnet diesen Fisch sezierte, um etwas über die Sexualität herauszufinden. Sein Name: Sigmund Freud.
Was der Begründer der Psychoanalyse nicht ahnen konnte, war, dass der Aal seine sichtbaren Geschlechtsorgane erst dann ausbildet, wenn er sie braucht. Dies jedoch dauert Jahre, in denen er, gleich einer mythologischen Figur, von Metamorphose zu Metamorphose lebt. Auch heute ist nur wenig über den Europäischen Aal bekannt, so wenig, dass Biologen gerne von der "Aalfrage" sprechen. Geht es um dieses geheimnisvolle Tier, waten Patrik Svensson zufolge selbst Spezialisten durch ein "Grenzland zwischen Glauben und Wissen". Der Titel, den die Abhandlung des schwedischen Journalisten trägt, klingt denn auch wie ein weihevolles Ausrufezeichen: "Das Evangelium der Aale". Auf das in diesem Fall ausnahmsweise naheliegende "geheime Leben" hat der deutsche Verlag immerhin verzichtet.
Zur Welt kommt der Aal als Larve in der östlich von Florida gelegenen Sargassosee. Wegen seines Aussehens bezeichnet man ihn in diesem Stadium als Weidenblatt. Direkt nach der Geburt beginnt eine dreijährige Reise an die Küsten Europas, wo sich das Weidenblatt in einen Glasaal verwandelt. Auch er ist, wie seine vorherige Erscheinungsform, durchsichtig, aber bereits sieben Zentimeter lang. Nachdem er in einem Zulauf des Meers zum Süßwasserbewohner geworden ist, transformiert er sich zum Gelbaal. Während sein Körper wächst und Schuppen erhält, sucht er sich ein Zuhause. Männchen werden nach etwa sechs bis neun Jahren geschlechtsreif, Weibchen brauchen dafür dreizehn bis fünfzehn Jahre. Schließlich wandert der Fisch zurück in die Sargassosee, durchläuft seinen letzten Gestaltwechsel und wird zum dunkel gefärbten Blankaal. An seinem Ziel pflanzt er sich fort und stirbt.
Darauf jedenfalls haben sich Forscher geeinigt, denn niemand hat jemals einen Blankaal beim Laichen oder in der Sargassosee beobachtet. Dafür weiß man, dass Aale auszusterben drohen, ist ihr Bestand seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts doch um mehr als fünfundneunzig Prozent eingebrochen. Svensson nimmt all dies auf, um den Aal als Enigma zu bestaunen und seine Ausführungen mit metaphysischen Überschüssen zu garnieren. Natur ist dabei kein gesetzmäßiger Zusammenhang, sondern ein Ort, der mit geradezu transzendenten Versprechungen lockt.
Um Faktencheck und animistisches Flüstern auszubalancieren, wechselt der Autor laufend den Darstellungsmodus: erst ein natur- oder kulturhistorisches Kapitel, dann ein Bekenntnisabschnitt im Stil des Nature Writing über die Angelausflüge mit dem Vater. Wiederholt streift Svensson die Frage nach unserem Ort im Gefüge des Lebens. Selbst wenn wir uns als Tier definierten, müssten wir Rechenschaft darüber ablegen, inwieweit wir den Kokon reiner Naturhaftigkeit verlassen und einen besonderen Status beanspruchen können. Das allerdings wird nicht gedanklich bebrütet, sondern in Literatur aufgelöst: "Die Spiegelung des Mondlichts, das flüsternde Gras, die Schatten der Bäume, das monotone Fließen des Wassers und darüber die Fledermäuse wie schwebende Sternchen. Man muss sich gewissermaßen anpassen und versuchen, ein Teil dieses Ganzen zu werden."
Es gelingt Svensson auch deshalb nicht, Sachbuch und Erzählung miteinander zu verflechten, weil er seine Möglichkeiten kaum ausschöpft. So böte die von ihm ins Spiel gebrachte Figur des Abschieds eine Gelegenheit, zu klären, inwiefern sich eine Verlusterfahrung (die des Vaters und jene der Aale) verändert, sobald sie poetisiert respektive analysiert wird. Lieber jedoch macht er den Fisch zum Ausgangspunkt abgegriffener Selbstfindungsklischees: "Das Rätselhafte, schwer Durchschaubare des Aals wird zum Echo der Fragen, die jeder Mensch in sich trägt: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin bin ich unterwegs?" Auch aphoristische Verallgemeinerungen haben das Lektorat überstanden: "Wer den Ursprung von etwas sucht, sucht zugleich auch seinen eigenen Ursprung." Hier schimmert eine romantische Einfärbung durch, die sich an anderer Stelle vollends entfaltet, wenn der Autor nämlich die Erkenntnis des Philosophen Thomas Nagel, man könne als Mensch die Welt niemals wie eine Fledermaus wahrnehmen, erst als "völlig korrekt" bezeichnet und dann doch in Frage stellt: Wer über ausreichend Phantasie verfüge, dem möge das Kunststück vielleicht gelingen.
Solche Kurzschlüsse sind bedauerlich, denn Svensson versteht es, biologische Fakten und kulturgeschichtliche Verwicklungen von Aristoteles über E. T. A. Hoffmann bis zu Günter Grass sachkundig aufzubereiten. Gleichwohl verlässt ihn diese Stärke, wenn er sich einem für sein Buch wichtigen Spannungsverhältnis zuwendet. Denn der Titel und einige Passagen, die sich der Frage nach Gott widmen, legen es nahe, zwei Formen des Weltbezugs miteinander zu vergleichen: religiöses Sprechen, das oft keine unmittelbare Referenz auf irdische Dinge besitzt, und die ständig zitierte Wissenschaft, welche ohne Referenzen kaum auskommt. Stattdessen solche Aperçus: "Zu glauben heißt, sich dem Geheimnisvollen zu öffnen." Nach dieser Logik ist Svensson, der sich als rational bezeichnet, ein streng Gläubiger, denn er öffnet dem Aal Tür und Tor.
KAI SPANKE
Patrik Svensson:
"Das Evangelium der Aale".
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz.
Carl Hanser Verlag, München 2020. 256 S., geb.
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