Besprechung vom 20.05.2020
Schmerz ist eine Schlange
Peter Zantinghs Roman "Nach Mattias"
Mattias ist weg, von einem auf den anderen Tag. Was bleibt, sind die Trauer und ein Fahrrad, das eine Woche danach geliefert wird. Wie ist es, wenn jemand plötzlich verschwindet? Wie verändert sich die Trauer? Und wie ist das passiert? Peter Zantingh lässt in seinem Roman "Nach Mattias" acht Menschen erzählen. Manche waren Mattias nah wie seine Freundin Amber oder seine Mutter, andere kannten ihn nur flüchtig.
Wer war Mattias? Diese Frage steht vermeintlich im Vordergrund. Amber sagt: "Mit Mattias war es, als könnten Tage und Stunden ausgedehnt werden, so dass immer noch etwas anderes hineinpasste." Zantingh webt die Informationen über Mattias so unmerklich und geschickt ein, dass sie manchmal in den Erzählungen der acht Protagonisten unterzugehen scheinen. Mattias liebte Musik, hatte genau im Kopf, wann in einem Lied seine Lieblingsstelle kam, spielte "Football Manager", konnte aber auch zynisch sein, schenkte seinem Gegenüber die volle Aufmerksamkeit. Beiläufig werden von den Protagonisten auch essentielle Lebensfragen gestellt: Wie wichtig sind Freunde? Was zählt im Leben? Was bedeuten Familie und Einsamkeit? Die Unklarheit darüber, was dem Roman wichtig ist, lässt den Leser niemals gedanklich rasten.
Dass Mattias tot ist, wird in dem Roman niemals klar gesagt, immer heißt es nur "nach Mattias". Der Schmerz über den Verlust "lehnt dunkel und geduldig an der Wand, streckt sich in voller Länge über den Asphalt aus oder zeichnet hinter dem Rücken eine Silhouette einer graziös drohenden Schlange auf den zu lange nicht gemähten Rasen", heißt es im einmal aus der Perspektive von Amber. Solche Umschreibungen verwundern, weil die Sprache dieses Buches sonst so kurz ist, so präzise und elliptisch - stilistisch wie inhaltlich.
Dagegen macht die Figurenzeichnung den Roman lesenswert, nicht nur die der Protagonisten, die Mattias nahestanden, sondern vor allem jener Personen, die ihn nur entfernt kannten. Gerade durch sie setzen sich nach und nach die Teile der Geschichte zusammen. Und dabei geht es längst nicht mehr nur um Trauer. Am Beispiel des blinden Chris, dessen Alltag geschildert wird, lässt sich fragen: Wie gestaltet sich unter diesen Umständen ein normales Familienleben? Wie ist es, wenn die Tochter langsam begreift, dass der Vater gar nichts sieht, dass sie am Strand Dinge sammelt, eine Sandburg baut, dass er das nur erfühlen kann? Zantingh lässt seine Leser in verschiedene Geschichten gleichzeitig blicken, doch sie müssen dabei immer wachsam bleiben, um nicht den nächsten Hinweis darauf zu verpassen, was mit Mattias passiert ist.
Denn da ist auch Nathan, ein Alkoholiker, der ein Strandhaus vermietet. Was hat er mit Mattias zu tun? Oder Issam, der den Verschwundenen nur aus der virtuellen "Football Manager"-Welt kennt, sich mit ihm jedoch verbunden fühlt, seitdem sein Computer aus einem Hotelzimmer gestohlen wurde und die mühselig aufgebaute Fußballmannschaft auf einmal weg war. Per Internet standen die beiden in Kontakt. Es ist ein in jeder Hinsicht von Zantingh perfekt gewebtes Netz, in dem der Roman agiert.
STEFANIE SIPPEL.
Peter Zantingh: "Nach Mattias". Roman.
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 240 S., geb.
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