Die unrühmliche Wahrheit über die britische Herrschaft in Indien - erstmals erzählt aus indischer Sicht
Das Britische Kolonialreich präsentierte sich nach außen hin als aufgeklärter Despotismus im Namen des Guten und zum Wohle der Beherrschten. Gestützt auf eine Fülle von Fakten demontiert Shashi Tharoor diese weitverbreitete Legende. Das Empire feuerte Kanonen gegen Aufständische ab, massakrierte unbewaffnete Demonstranten, schuf einen institutionalisierten Rassismus und ließ Millionen Menschen verhungern. Die Formen der Ausbeutung reichten von der Abschöpfung der inländischen Ressourcen über die Zerstörung der indischen Textilindustrie bis hin zur Vernichtung der heimischen Landwirtschaft. In seinem scharfsinnigen, minutiös recherchierten und glänzend geschriebenen Essay enthüllt Tharoor die unrühmliche Wahrheit über die britische Herrschaft in Indien und deren bis heute nachwirkendes verheerendes Erbe.
Nummer-1-Bestseller in Indien
Mit einem Essay von Mithu Sanyal: Und was hat das alles mit uns zu tun?
Besprechung vom 27.08.2024
Weiser Fürsten zu gedenken
Eine Erzählung von nationaler Emanzipation: Shashi Tharoor über die Geschichte der britischen Herrschaft in Indien
Shashi Tharoor ist ein Weltbürger indischer Herkunft. Nach einer Karriere bei den Vereinten Nationen, die 2006 fast durch die Wahl zum Generalsekretär gekrönt worden wäre, stieg er in die indische Politik ein, wo er ein führender Parlamentarier der in der Tradition Gandhis stehenden Kongresspartei ist. Dazu kommt eine fulminante Präsenz als politischer Kommentator, Sachbuch- und Romanautor; er ist also genau die Art von Persönlichkeit, welche den Debatten der Oxford Union Glanz verleiht. Im Mai 2015 stand dort die Frage zur Diskussion, ob Großbritannien Reparationen an seine ehemaligen Kolonien zahlen solle.
Tharoors brillante Rede dauerte etwas länger als fünfzehn Minuten und mündete in den Vorschlag einer symbolischen Schuldanerkenntnis: Die Reparationen sollten in einem Pfund jährlich bestehen, das für die nächsten 200 Jahre zu zahlen sei. Die Debatte fand vor vergleichsweise kleinem Publikum statt, das mit deutlicher Mehrheit für Reparationen stimmte. Auf Youtube wurde sie dann aber rasch millionenfach abgerufen. Dass es offenbar historischen Aufklärungsbedarf gab, motivierte Tharoor dazu, eine deutlich längere Version in Buchform vorzulegen. "Inglorious Empire" erschien 2017, "Zeit der Finsternis" ist eine leicht aktualisierte deutsche Fassung.
Tharoors Buch berichtet nichts Unbekanntes, sondern fasst in eleganter, manchmal zorniger, manchmal ironischer und manchmal empathischer Form viele Informationen über die britische Herrschaft in Indien zusammen, die eigentlich bekannt sein sollten. Es geht um die Zoll- und Handelspolitik, die indische Exporte von Baumwollstoffen behinderte, britische Exporte förderte und so eine indische Industrialisierung bereits im Ansatz ausbremste. Es geht um den Vermögenstransfer von Indien nach Großbritannien, der über Steuern, Währungsmanipulationen, garantierte Eisenbahndividenden und Pensionslasten erfolgte. Es geht um den alltäglichen Rassismus, der den Umgang der britisch-indischen Eliten mit allen Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung prägte. Es geht um die Hungersnöte, die aus einem erbarmungslosen Bekenntnis zum Freihandel erwuchsen: Immer wieder verließen große Mengen an Nahrungsmitteln den Subkontinent Richtung Europa, während dort regional extremer Mangel herrschte. Es geht um Episoden brutaler Repression wie das Massaker von Amritsar. Und es geht um die administrative Verfestigung religiöser Kategorien und Kastenzuordnung als Variante des Prinzips "teile und herrsche".
Tharoor erkennt ambivalente oder positive Folgen der imperialen Erfahrung durchaus an: die (von ihm selbst präferierte) englische Sprache, eine begrenzte Pressefreiheit, die einen gemäßigt kritischen öffentlichen Raum schuf, die Entdeckung von Tee als Exportware, Cricket oder das parlamentarische Regierungsmodell (dem er persönlich allerdings eine Präsidialverfassung amerikanischen Stils vorziehen würde) sowie Teile der Rechtsordnung. Diese seien aber nicht das Ziel der britischen Herrschaft gewesen, sondern eher Nebenwirkungen. Gewiss trage auch die Kongresspartei, die in verschiedenen Inkarnationen zwischen 1947 und 2014 die indische Politik dominierte, Verantwortung für die gegenwärtige Lage des Landes, etwa für die Geltung des kolonialen Strafrechts; das entbinde aber nicht von der Pflicht einer realistischen Erinnerung an die Jahre des Raj.
Es ist einer der Vorzüge des Textes, dass er sich auch gegen den Strich lesen lässt. Denn die zitierten Belege für die Missbräuche stammen nicht nur von amerikanischen Beobachtern, vor allem Will Durant, sondern auch von kritischen Stimmen aus Großbritannien. Tharoor verschweigt zudem keineswegs, dass die britische Herrschaft allein aufgrund der Zahlenverhältnisse - die Größe der britischen Verwaltung des Subkontinents schwankte zwischen viertausend und sechtausend Beamten - erhebliche lokale Mitwirkung voraussetzte. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass in seinem Plädoyer der Gegensatz zwischen "den Briten" und "den Indern" im Zentrum steht und Inder auf der falschen Seite als Kollaborateure erscheinen.
Problematisch ist das ahistorische und auf veralteten Schätzungen beruhende Bild, das Tharoor von der Zeit vor dem Beginn des britischen Einflusses zeichnet: Damals hätten weise und bescheidene Fürsten über Menschen geherrscht, die viel wohlhabender waren als die zeitgenössische britische Bevölkerung. Bescheidene Steuern wurden im Konsens festgelegt, religiöse Spannungen, sexuelle Diskriminierung oder ein Kastenwesen gab es nicht, eine indische Identität war längst etabliert. Das wirft nicht nur die Frage auf, warum sich diese ideale Welt einer vergleichsweise kleinen Gruppe gieriger Abenteurer auslieferte, sondern führte auch dazu, dass das Buch nicht nur von Empire-Nostalgikern kritisiert wurde: Die Glorifizierung einer national gedeuteten Vergangenheit sei zumindest nahe an den Umdeutungen der indischen Geschichte aus religiös-nationalistischer Perspektive, welche die Ära Modi prägen.
Tharoors Buch von 2017 arbeitete sich indes nicht zuletzt an Niall Fergusons Geschichte des Empire ab, die bereits 2003 erschienen war. Inzwischen hat sich die wirtschaftshistorische wie die allgemeinhistorische Debatte jedoch deutlich weiterbewegt. Es gibt eine lebendige Diskussion über die Bedeutung von Zollschranken und Vermögenstransfers für die indische Wirtschaftsgeschichte. Die Schätzungen des Lebensstandards in Europa und Asien im achtzehnten Jahrhundert neigen inzwischen wieder dazu, Asien als den durchschnittlich ärmeren Kontinent zu sehen. Zudem blickt die Forschung stärker auf die Frauen und Männer zwischen "den Briten" und "den Indern", die sowohl in der nostalgischen Erinnerung an das Empire als auch in der von Tharoor aktualisierten kanonischen Erzählung nationaler Emanzipation bislang wenig Platz finden.
Das Nachwort von Mithu Sanyal macht dieses Thema elegant sichtbar, indem es mehrfach ansetzt, Geschichten zu erzählen, die erklären, warum diese Darstellung der Kolonisation Indiens auch "uns" angeht - um das "uns", das bei Tharoor so eindeutig erscheint, in vielfältige Identitätsangebote aufzulösen. ANDREAS FAHRMEIR
Shashi Tharoor: "Zeit der Finsternis". Das britische Empire in Indien.
Aus dem Englischen von Cornelius Reiber. Die Andere Bibliothek/ Aufbau Verlage, Berlin 2024. 480 S., geb.
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