London zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Eigentlich will Simon Batley nie wieder mit dem britischen Geheimdienst zu tun haben. Jahre zuvor, als Physikstudent in Berlin, arbeitete er ihm zu, naiv und undercover. Das führte zu einer Katastrophe, die Batley nie ganz verstand, auch seine große Liebe zu seiner Kommilitonin Hedi von Treyden endete jäh. Doch der Krieg ändert alles. Agent Batley stößt auf die Spur einer neuen Waffe der Deutschen, von nie gekannter Zerstörungskraft. Bald darauf, instruiert von Niels Bohr und Rudolf Heß, reist er als Spion nach Lissabon - und schließlich ins Dritte Reich. Er will den mysteriösen Hans Kammler aufspüren: Der ist als Chefplaner von unterirdischen Forschungsstätten und geheimen Waffenprogrammen einer der mächtigsten Nazis. Während Batley versucht, vor den Sowjets und den USA an die deutsche Technik und an Kammler zu kommen, folgt er auch einer persönlichen Mission: Er will Hedi wiederfinden und endlich klären, was damals in Berlin geschah.
Steffen Kopetzkys spannungsvoller Roman erzählt von der Jagd nach der Atomtechnik, der Spur eines Phantoms - und einem Mann, der zwischen Schuld, Liebe und Hoffnung steht.
Besprechung vom 10.04.2025
Das Hohelied der deutschen Überlegenheit
In Steffen Kopetzkys Spionagethriller "Atom" macht ein britischer Agent Jagd auf die Rüstungsforschung unter dem Nationalsozialismus
Die Parallelen zur Gegenwart mögen Luftspiegelungen sein, schließlich spielt Steffen Kopetzkys historischer Thriller "Atom" zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der (fiktive) britische Physiker Simon Batley wird darin 1927 vom (fiktiven) Geheimdienst-Commander Scully Hamilton angeworben, um als Student in Berlin für den MI6 die deutsche Raketenwissenschaft auszuspionieren, wobei er sich in die (fiktive) deutsche Wissenschaftlerin Hedwig von Treyden verliebt. Während des Kriegs wird ihm dann die Leitung der Londoner Abteilung übertragen, die die deutsche Waffenentwicklung beobachtet. Simon sucht sowohl nach der tödlichen Bombe als auch nach seiner zurückgelassenen Geliebten.
Das klingt nach einem Agententhriller nach Lehrbuch, und tatsächlich überzeugen die erdachten Figuren nicht: Die Liebeshandlung wirkt lieblos angeklebt, die moralische Zwickmühle konzeptuell. Die Protagonisten gewinnen nie an intellektueller oder emotionaler Tiefe. Der makabre Tanz um die Bombe aller Bomben allerdings, der wird bis heute - und zunehmend erschöpfter - getanzt. Wer Nuklearwaffen hat, kann sich, Kaltblütigkeit vorausgesetzt, alles erlauben, wie die Welt spätestens an Russlands Feldzug gegen die Ukraine sieht. In historischer Hinsicht handelt Kopetzkys Roman von den ersten Schritten dieses Tanzes, und schon da geht es um Betrug, Spionage und Verrat.
Dass die Alliierten sich um die Akteure, Pläne und Materialien der deutschen Rüstungsindustrie rissen, ist nicht neu. Auch nicht, dass die USA dabei die Nase vorn hatten und führende deutsche Raketenwissenschaftler wie Wernher von Braun rekrutierten. Raunend wurde gerne gemutmaßt, deutsches Geheimwissen aus den Stollen des Bösen habe entscheidend zur Entwicklung der amerikanischen Atombombe beigetragen. Schließlich wurde im Dritten Reich nicht nur die Kernspaltung entdeckt (von Otto Hahn und Fritz Straßmann 1938 in Berlin), sondern auch fleißig an der Idee einer Kernwaffe geforscht, etwa von Werner Heisenberg. Christopher Nolans "Oppenheimer"-Film vor zwei Jahren setzte einer falschen Mythisierung öffentlichkeitswirksam die wahren Dimensionen entgegen: Das gewaltige "Manhattan Project" war so groß und erfolgreich, dass es die Erkenntnisse der Deutschen, die bereits daran gescheitert waren, die Kernspaltung in einem Versuchsreaktor zu steuern, für die Entwicklung der Bombe überhaupt nicht brauchte.
In den meisten Büchern und Filmen zum Thema geht es um die Verantwortung der Wissenschaftler. Kopetzky erzählt die Geschichte noch einmal aus einem anderen, faszinierenden Blickwinkel, indem er den Scheinwerfer auf eine trotz ihrer ungeheuren Schuld öffentlich wenig bekannte historische Person richtet: auf den Architekten und SS-Obergruppenführer Hans Kammler, verantwortlich für den Bau aller Konzentrationslager (inklusive Krematorien und Gaskammern) und von 1943 an für die Verlagerung der deutschen Rüstungsproduktion (von Strahljägern bis zur V2-Rakete) unter die Erde. Stimmig ist in "Atom" das historische Setting. Mit atmosphärischem Kolorit und viel Detailwissen, auch wenn das mitunter den Erzählfluss stört, evoziert der Autor die militärische und gesellschaftliche Lage Deutschlands und Großbritanniens während des Kriegs. Es geht um Kommandoaktionen wie den misslungenen britischen Angriff auf eine von den Nationalsozialisten genutzte Schwerwasserfabrik in Norwegen ("Operation Freshman"), um das Dechiffrieren von Nachrichten, um die ominöse Flucht von Hitlers Stellvertreter und selbst ernanntem Friedensboten Rudolf Heß auf die Insel (Simon verhört ihn), um das mörderische Unternehmen Mittelwerk bei Nordhausen (Simon ist entsetzt) oder den Prager Aufstand (Simon gerät hinein).
Und doch stellt sich zunehmend ein mulmiges Gefühl ein. Das hat weniger damit zu tun, dass bei Kopetzky die Geheimdienste der USA und Großbritanniens in einen schweren Konflikt geraten bis hin zur erstaunlichen Andeutung einer Verständigung der Briten mit den Sowjets. Man weiß naturgemäß wenig über geheimdienstliche Volten; da darf ein Spionagethriller kreativ sein. Problematisch wird es, wenn sich der Autor auf hochspekulative, von der Wissenschaft weitum abgelehnte Vermutungen zur Entwicklung einer deutschen Atombombe stützt.
Die gehen vor allem auf den Historiker Rainer Karlsch zurück und haben zu mehreren kritisierten Dokumentationen im ZDF geführt, sonst aber wenig Resonanz erfahren. Karlsch hatte zunächst ohne allzu stichhaltige Belege gemutmaßt, es sei den Deutschen eben doch gelungen, eine Atombombe mit begrenzter Wirkung herzustellen. So finde sich ein Hinweis auf deutsche Atombombentests in sowjetischen Geheimdienstakten. Dies taucht auch bei Kopetzky auf. Allerdings ist es eine russische Spionin, die Simon darüber informiert. Damit hat sich der Erzähler aus der Affäre gezogen, ohne auf den Knaller verzichten zu müssen.
Ebenfalls von Karlsch (aber auch weiteren Gewährspersonen) wurde sodann die These in den Raum gestellt, Kammlers Suizid am 9. Mai 1945 bei Prag sei nur vorgetäuscht gewesen. Er habe sich eigentlich mit den Amerikanern arrangiert. Im letzten Viertel des Buchs jagt Simon mit einem Mitarbeiter (und schließlich sogar Hedi) wenig glaubhaft dem von Rüstungsstätte zu Rüstungsstätte eilenden Kammler hinterher. Der sichert dort Materialien, die dann von der US Army abgeholt werden.
Wenn auch nicht belegt, wäre immerhin vorstellbar, dass auch Kammler, dieser "Technokrat der Vernichtung" (Rainer Fröbe) vom Schlage Adolf Eichmanns, seinen Zugang zu Wissen als Lebensversicherung nutzen wollte. Ob bei den Amerikanern, und zwar unabhängig von jeder moralischen Überlegung, an einem Experten für Bunkerbau, der über Waffenkonstruktionsdetails wenig gewusst haben dürfte - Kammler war Architekt und Organisator, kein Ingenieur oder Naturwissenschaftler -, größeres Interesse bestand, ist eine ganz andere Frage.
Endgültig windig wird es in dem erzählerisch in Richtung "James Bond" gedrehten Finale des Buchs. Denn nachdem Kammler vor Simon und Hedi geschützt wurde - der amerikanische Sicherheitsoffizier Donald Richardson, ein Vertrauter General Eisenhowers, hat daran großen Anteil -, bergen amerikanische Agenten aus dem von Kammler mitgeteilten Versteck knapp siebzig Kilogramm spaltbares Uran-235. Tatsächlich behauptete Donald Richardsons Sohn John vor wenigen Jahren, der Vater habe ihm erzählt, dass er Kammler 1945 in die USA schmuggeln sollte. Auch dabei: siebzig Kilogramm waffenfähiges Uran.
Kopetzky stürzt sich auf diese Räuberpistole. Oppenheimer habe so "Handlungsfähigkeit" erlangt, heißt es. Im Buch gelangt das Material auf die Wendover Air Base in Utah, "wo schon alles für einen bald kommenden Einsatz vorbereitet wurde" - gemeint ist die Atombombe "Little Boy", die am 6. August 1945 Hiroshima verwüstete. Ein Angriff mit übermitteltem Nazi-Uran als Beginn "der Herrschaft des Atoms"? Das ist, Pardon, reißerischer Unsinn. Und in einer von Fake News überschwemmten Gegenwart sogar tendenziell verantwortungslos.
Denn da dieser Roman seine Handlung nicht aus den Figuren entwickelt, die eher an Statisten in einer Reenactment-Doku erinnern - dröge sind Scullys andauernde Shakespeare-Zitate, und geradezu hölzern wirken die wenigen Sätze, die Simons Emotionen beschreiben: "Es löste ein bitteres Gefühl in ihm aus, wenn er daran dachte, dass Hedi nun in der Gewalt dieses SS-Bürokraten war" -, und da andererseits jede kleine Wendung historisch genau verortet und fast mit Geschichtsbuchakkuratesse wiedergegeben wird, muss sich das Buch auch an seiner Wirklichkeitstreue messen lassen.
Da hilft es wenig, im Nachwort gleich die große Keule zu schwingen: "Geschichtsschreibung ist keine exakte Wissenschaft, und ein politisch-historischer Roman ist es schon zweimal nicht." Ganz apart ist einzig, dass Kopetzky den jungen Spion Ian Fleming in Kontakt mit Batley treten lässt. Beim zweiten Treffen im Epilog hat Fleming sogar schon "Moonraker" geschrieben, eine wilde Fabel über einen deutschen Atomraketen-Racheangriff auf London - aber genau das macht noch einmal deutlich, wie sehr sich Kopetzkys Roman (samt Nachwort, das auf seine Wirklichkeitsnähe abhebt) von einem solchen unterhaltsamen "Bond"-Thriller unterscheidet. Auch mit John le Carrés psychologisch ausgefuchsten Meisterwerken hat das Buch, das der Autor als das "Herz" seiner fünf historischen Romane bezeichnet, sehr wenig gemein. Man sollte britische Spionageromane vielleicht besser den Briten überlassen. OLIVER JUNGEN
Steffen Kopetzky: "Atom". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2025. 414 S., geb.
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