Besprechung vom 19.02.2020
Ein Taucheranzug gegen die Welt
Svetlana Lavochkina zieht in ihrem Roman "Puschkins Erben" die Breschnew-Zeit durch den Kakao.
Wenn schon, denn schon. Wenn Puschkin 1820 auf der Reise nach Odessa schon als "künftiger Mozart der russischen Poesie" eingeführt wird, dann, voilà, bitte ebenso überspannt und exaltiert wie der Protagonist in Milos Formans Film "Amadeus". Der russische Salieri - wenn man so will -, Nikolai Karamsin, hat indes weniger Probleme mit dem eigenen Geniedefizit und schickt sich genügsam in die Rolle des Mentors und Förderers des künftigen Nationalliteraten: Er setzt sich dafür ein, dass die Verbannung des Dichters nach Sibirien in einen Aufenthalt an der Schwarzmeerküste umgewandelt wird.
Bei einem Aufenthalt in Saporoschje - heute Saporischschja und im Text aufgrund der englischen Vorlage etwas unglücklich als Zaporoschje wiedergegeben - erkrankt der Dichter. Der innigen Pflege seiner jüdischen Wirtin ist nicht nur die Genesung, sondern wohl auch ein Erbe zu verdanken.
Rund einhundertfünfzig Jahre später verfällt der Russischlehrer Josik Winter der fixen Idee, ein Nachfahre des verehrten Poeten zu sein. Immerhin hat er ein Schriftstück gefunden, bei dem es sich um eine Originalhandschrift handeln könnte. Doch während er sein genealogisches Glück mehr oder weniger geheim hält, posaunt die in Moskau lebende Cousine seiner Frau, Alka Katz, lauthals heraus, was sie sich in zunehmendem Wahn zusammenfabuliert hat: Hemingway ist nicht nur ihr Dissertationsthema, sondern auch ihr Vater.
Svetlana Lavochkina, eine Ukrainerin, die heute in Leipzig lebt und auf Englisch schreibt, spürt in ihrem Roman "Puschkins Erben" der Atmosphäre während der Breschnew-Zeit nach. Schauplatz ist eben Saporoschje, gelegen am Dnepr, eine Fahrt mit dem Nachtzug von Moskau und quasi einen Katzensprung von Odessa entfernt. Jüdische, russische und ukrainische Menschen, Kosaken und Zigeuner leben hier zusammen, einträchtig schon, aber mit allerlei verbalen Katzbalgereien, die auch im Flirt oder der Anmache derb sind. Da kann eine Russin in die Silvesterfeier einer jüdischen Familie platzen und erklären: ",So trinken wir ehrlichen Russen', sagte Swetka, ihr Glas hochhaltend, ,in einem Zug. Nicht wie ihr Juden mit euren Tricks. Ihr trinkt, ohne betrunken zu werden. Ich wette, ihr gießt euch den Wodka in die Ärmel, nicht wahr, Josik?'" Eine Stimmung, wie vielleicht eingefangen von Repin in seinem Gemälde der Saporoger Kosaken, die dem türkischen Sultan schreiben. Deftig und zotig. Bei Schmerzen oder Nebenwirkungen lese man daher die Seite des Impressums - "Die Verwendung einiger Begriffe im Text spiegelt nicht die Haltung des Verlages wider" - oder begebe sich direkt zur Buchhandlung des Vertrauens.
Nach einer kurzen Phase des Tauwetters leitet Breschnew die triste Ödnis der Stagnation und Gerontokratie ein. Visuell ist er bis heute präsent, als Mann, der mal mit einem ostdeutschen Politiker den sozialistischen Bruderkuss tauscht, mal mit einem westdeutschen in Brauenkonkurrenz treten könnte. Doch sonst? Der "aktive Wortschatz der Schaffnerin beinhaltete ,bitte' und ,selbstverständlich'" - aber nur weil sie in der ersten Klasse der Bahn eingesetzt wurde. Niemand ist in dieser Zeit besonders zimperlich. Die Mitglieder der jüdischen Familien Winter, Knoblauch und Katz wären so schrecklich gern mondän und promiskuitiv, aber am Ende landen immer wieder alle in einer höchst überschaubaren Zahl von Betten. Ein Reigen, wie er piefiger kaum sein könnte. Um angesichts der Tristesse nicht eine "komplexe subkutane Abfolge von Stimmungen" zu durchleiden, gibt es ein paar probate Mittel: in einen "wirklichkeitsabweisenden Taucheranzug" zu schlüpfen, sich die Realität durch etliche Botschaftsangehörige, die an jeder Ecke beharrlich auf das begehrte Stelldichein warten, schönzureden oder am Ende auszuwandern, nach Israel oder Amerika.
Lavochkina zieht die Nomenklatura der damaligen Zeit treffsicher durch den Kakao - Schuhfabriksdirektorentöchterchen Alka aus Moskau hält Kapern für zapplige Fische und Anchovis für Beeren aus dem Mittelmeerraum - und fängt die Atmosphäre mit ihrer Defizitwirtschaft und dem dauerhaften Schielen nach dem Westen bei gleichzeitiger offizieller Arroganz gegenüber dem Kapitalismus mit viel Phantasie ein. Das ist gute Unterhaltung. Gelegentlich gerät ihr ein Dialog etwas hölzern, gelegentlich gestattet sie sich eine Zote zu viel, am Ende entwirft sie unter dem Grau jedoch ein farbenreiches Bild. Antisemitismus, Frauenverachtung, das große Schweigen über die Stalin-Zeit und die Herabsetzung der Provinz - all das fängt sie ein. Und am Ende zeigt sich, dass dieser Roman sämtlichen derben Zoten zum Trotz sehr ernsthaft auch von geplatzten Träumen und Lebensentwürfen spricht und dass unter der rohen Oberfläche etwas Zartes liegt.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Svetlana Lavochkina: "Puschkins Erben". Roman. Aus dem Englischen von
Diana Feuerbach. Verlag Voland & Quist,
Berlin / Dresden / Leipzig 2019. 368 S., geb.
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