Besprechung vom 06.01.2025
Verbrechen und andere Kleinigkeiten
Was, wenn der Nachbar als Serienmörder verhaftet wird? Tiffany Taverniers erster deutscher Auftritt überzeugt
An einem Waldrand in der französischen Provinz. Zwei Häuser in Alleinlage, bewohnt von jeweils einem Ehepaar. Mit sich allein sind auch Thierry und Élisabeth. Ihr einziges Kind, Marc, ist ausgezogen und lebt jetzt in Asien, vor nicht allzu langer Zeit haben sie ihren Hund Jules begraben, Hundefriedhof, weißer Grabstein. Im anderen Haus leben der Makler Guy und seine Frau Chantal, ein kinderloses Ehepaar, auch ihr Hund hat das Zeitliche gesegnet. Man pflegt gutnachbarschaftliche Beziehungen.
Eines schönen Samstags, Thierry ist im Begriff, zu einem Morgenspaziergang aufzubrechen, umstellen Spezialeinsatzkräfte der Gendarmerie das Haus von Guy und Chantal, Gewehre im Anschlag, der Einsatzleiter befiehlt Thierry und Élisabeth, sich flach auf den Boden zu legen. Worum es bei dem Einsatz geht, verrät Capitaine Bretan nicht. Geflohene Ausbrecher? Terroristen? Abwegig, hier auf dem Land. Dann wird klar: Guy ist festgenommen worden, warum, das erfahren seine Nachbarn aber nicht von der Polizei, sondern aus dem Fernsehen: Guy Delric soll ein lange gesuchter Serienmörder sein. Mindestens sieben Mädchen und junge Frauen soll er vergewaltigt und getötet haben, eine höhere Dunkelziffer wird befürchtet.
Aus der Idylle wird ein Albtraum, überall Absperrbänder, Zelte, Spurensicherung, Grabungen, Pressemeute an der Zufahrtsstraße, vor der Haustür, am Telefon, im Netz. Für Thierry und Élisabeth bricht eine Welt zusammen. Besonders für Thierry war Guy so etwas wie der einzige Freund, teilte dessen Leidenschaft für Insekten. Gemeinsam sammelten und hegten sie seltene Exemplare. Hätten sie Verdacht schöpfen müssen, war Guys Begeisterung - "Thierry, das ist einfach nur genial!" - für die Grabwespe, die eine doppelt so große Grille mit drei Stichen lähmt, um sie ihren Larven lebendig verfüttern zu können, nicht ein Hinweis auf eine mögliche Devianz?
So liegt dieses unschuldige Paar unter dem Mikroskop Tiffany Taverniers, die dessen hilfloses Gezappel und Gestammel über die Zerstörung seiner Welt zum Ausgangspunkt ihres ungewöhnlich konstruierten Romans macht. Die französische Autorin ist als Tochter von Colo und Bertrand Tavernier vorbelastet: Ihre aus England stammende Mutter war Drehbuchautorin, ihr Vater ein bekannter Filmregisseur. Die Tochter ist nach dem Roman "Frühstück bei Tiffany's" benannt, auch ein Vermächtnis. Seit 1999 hat die heute Siebenundfünfzigjährige neun Romane vorgelegt, "L'ami" ist ihr achter und der erste, der in deutscher Übersetzung bei Lenos erscheint - ein Verlag, der uns zuletzt eine ganze Reihe bemerkenswerter Kriminalromane beschert hat von Autoren wie Colin Niel, Joseph Incardona oder Éric Plamondon.
Thierry fungiert als über die Maßen unzuverlässiger Ich-Erzähler: Seine Perspektive ist die eines emotional Unterbelichteten. "Der Freund" entwickelt die Geschichte aus der Gegenwart in die Vergangenheit des Paares hinein, während man von den Nachbarn Guy und Chantal nicht allzu viel erfährt. Außer, dass sie sich häufig stritten, Guy dann mit dem Lieferwagen durch die Gegend fuhr, nachts manchmal irritierende Geräusche aus dem Haus drangen, Chantal an Depressionen leidet und einmal kurz davorstand, sich Élisabeth zu öffnen.
Eines der ausgegrabenen Opfer ist in ein Leintuch gewickelt, das Élisabeth gehört, die Traumatisierungen nehmen zu, und schon gähnt der Abgrund wie ein geöffnetes Haifischmaul. Ein Psychotherapeut legt zügig das Kernproblem frei - bei aller hilflosen Wut, die Thierry gegenüber Guy verspürt, vermisst er seinen Freund, hätte ihn gern wieder in seinem Leben. Und Élisabeth, als dilettierende Hobbymalerin gefangen in einer ihrer seelischen Gesundheit abträglichen Existenz, hat schon eine Weile Absichten, diesem Leben zu entfliehen. Nun drängt sie darauf, das Haus zu verkaufen, wegzugehen. Doch Thierry denkt gar nicht daran, er kann nicht weinen, er macht einfach weiter, geht wieder in die Fabrik, wo er als Vorarbeiter Maschinen wartet. Ein täglicher Spießrutenlauf, erst an den Reportern vorbei, dann den Fragen der Kollegen ausweichen. Dann verlässt Élisabeth das Elend, antwortet nicht mehr auf seine Anrufe, ihre Schwester schirmt sie ab. So zerbröseln Stück für Stück die Lebensentwürfe. Tavernier zerlegt ihre Figuren mit sanftem Nachdruck, ohne sie vorzuführen, zeigt die Zwanghaftigkeit ihrer Regression in Richtung Kindheit. Thierry zieht es auf einen verlassenen Bauernhof, auf dem er aufwuchs, dann widerstrebend zu seinem erfolgreichen Bruder, der es zu Villa mit Pool im Süden gebracht hat. Und doch ist es der Bruder, der ihm einen Weg aufzeigt.
Indem er erzählt, was ihm als Offizier in Afrika an Täuschung, Verrat und Verlust widerfahren ist. Dagegen nimmt sich Thierrys Leiden harmlos aus. Derweil exhumiert die Gendarmerie Leiche um Leiche, und Thierry wird von Capitaine Bretan zu einer Tatortbegehung beordert. Dort trifft er auf die Eltern eines der ermordeten Mädchen - und auf Guy. Das Finale beginnt, wo alles begann, aber es endet nicht dort. HANNES HINTERMEIER
Tiffany Tavernier: "Der Freund". Roman.
Aus dem Französischen von Anne Thomas.
Lenos Verlag, Basel 2024.
262 S., br.,
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