Die Autorin Valerie Jakob hat offenbar am Thema Familie und Trauma großen Gefallen gefunden. Schon mit Mauersegler hatte sie tief in der Familiengeschichte ihrer Protagonisten und in der Zeitgeschichte ihren Roman zu einer fulminanten Entwicklung getrieben. Auch in Frag nicht nach Agnes verbindet sie das Hier und Heute mit der tragischen Lebensgeschichte der Familien Steiner und Kleefeld.
Zuerst lernt der Leser Lilo Kleefeld kennen, Goldschmiedin von Beruf, lebt sie in Baden-Baden, und besucht ihre Mutter Monika zum Geburtstag. Es ist nicht klar, ob es der 60. ist, aber es könnte so sein. Es kommt bei diesem Zusammentreffen zu einem kleinen Eklat, Lilo lässt ihre frisch in Trennung lebende Mutter zum Feiern mit ihren Freundinnen zurück und nimmt einen Brief mit. Eigentlich soll dieser in den Briefkasten, aber Lilo zieht er magisch an. Der Name Frank Steiner deutet auf einen Verwandten ihrer Mutter hin und nur zu gern möchte sie endlich das wohl gehütete Familiengeheimnis lüften. Lilos Großmutter war eine verheiratete Steiner, soviel weiß Lilo. Aber sie kennt nicht einmal ihren Vornamen, auch vom Großvater weiß sie nichts. Lilos Mutter Monika war noch als Kleinkind in Pflege gegeben worden und hatte nie Kontakte zur leiblichen Familie. Das Schweigen darüber belastet das Verhältnis der Familie Kleefeld, die Spannungen haben auch zur Trennung der Mutter von Lilos Vater beigetragen. Nun versucht sie mit allen Mitteln, jenen Frank Steiner zum Reden zu bringen, um endlich Klarheit über ihre Vorfahren und die Familiengeschichte zu erlangen. Ganz so einfach geht es jedoch nicht.
Der zweite Erzählstrang führt zurück ins Jahr 1943, Agnes (so heißt Lilos Großmutter also) landet ausgebombt, ohne jede Familie und vollkommen mittellos in Rotweier bei Familie Steiner, die für Ausgebombte eine Unterkunft angeboten hatten. Der aus dem Ersten Weltkrieg kriegsversehrte Carl ist nicht das Familienoberhaupt, diese Stelle hat Frieda, seine Frau eingenommen. Der älteste Sohn ist gefallen, der jüngste Sohn Ernst, lebt mit im Haus. Dann ist da noch Walter, der steht im Felde. Agnes wird nach kurzer Eingewöhnungszeit zu einer Art preisgünstiger Hausangestellter. Sehr angenehm ist das nicht und bequem auch nicht, aber sie hat ein Dach überm Kopf und zu essen. Als sie bei einem Fronturlaub Walter kennenlernt, fleht dieser sie an, im Haus wohnen zu bleiben und sich um die Eltern zu kümmern, auch um Ernst. Kurze Zeit später wird sie per Brief einen Heiratsantrag bekommen. Ihr Leben und ihre weitere Entwicklung werden nach der schnell folgenden Hochzeit nie mehr frei und ungebunden sein.
Zwischen den Schilderungen aus Rotweier erfährt der Leser mehr und mehr von Lilos Leben, ihren Wünschen, Hoffnungen und ihrer Arbeitsstelle beim Goldschmied Falkner. Zeichnet sich zuerst eine hoffnungsvolle Karriere ab, muss sie nach und nach feststellen, dass ein neuer Mitarbeiter alles auf den Kopf stellen kann. Küster, ein Mann des Marketings, der schlangengleichen Anpassung und des inhaltsleeren Redens nimmt ihr binnen Kurzem jede Chance. Enttäuscht muss sie feststellen, dass ihre über Jahre erarbeitete Stellung in der kleinen Firma wohl dem Ende zugeht.
Lilo hat einen Freund, Felix, sie kennen sich schon seit der Schulzeit, dieser hilft ihr zumindest moralisch wieder auf die Beine und er unterstützt ihre frisch begonnene Spurensuche nach der Wahrheit in der alten Familiengeschichte. Denn der Ausspruch Frag nicht nach Agnes hängt über allem, was geschieht. Diese Agnes so schuld sein an einer ganzen Familientragödie, natürlich auch am zerstörten Leben ihrer Mutter, und Lilo will endlich die Hintergründe dafür wissen.
Als Anfang der 1950er Jahre Walter aus der russischen Kriegsgefangenschaft entlassen wird, hat Agnes längst Arbeit gefunden. Ausgerechnet bei den französischen Besatzern. Die Bedingungen, unter denen verheiratete Frauen zu jener Zeit noch zu leiden hatten, zumindest im Westteil Deutschlands, spotten heute jeder Beschreibung. Der Ehemann war der absolute Herr und Herrscher. Wie sich die Geschichte zwischen Walter und Agnes weiterentwickelt, was zum Zerwürfnis führt und zu Monikas Entfernen aus der Familie, das muss jeder selbst lesen. Ich fand es einerseits interessant, über diese Zeit mehr zu erfahren, andererseits aber machte es mich auch traurig, welche Auswirkungen nicht nur der Krieg, sondern auch der Nachkrieg auf die ganz normalen Leute hatte.
Die Arbeitsprobleme von Lilo haben mich hingegen nicht so sonderlich bewegt, kenne ich doch aus meinem früheren Berufsleben ausreichend Beispiele für solche wortgewaltigen und hohlen Führungspersönlichkeiten. Ich habe nicht nur einen davon schnell wieder gehen sehen, leider immer mit großen Abfindungen, damit man sie schnell wieder loswurde. Auch Lilos hehre Ansichten bezüglich der Herkunft von Gold und Edelsteinen und der Ausnutzung von Ressourcen wurden etwas überstrapaziert, mit der eigentlichen Geschichte hat das nur am Rande zu tun.
Die Auflösung der Rätsel um Agnes und Walter wurde etwas vereinfacht dargestellt, die Suche in den Bundes- und Landesarchiven ist wesentlich langwieriger und schwieriger als es im Buch dargestellt wird. Dass es teilweise aber auch schon beim Lesen der Dokumente eines sehr guten Spürsinns bedarf, das weiß ich aus Erfahrung. Alte Dokumente haben ihren besonderen Reiz, wenn man sie entschlüsselt hat. So auch in diesem Roman.
Mir hat der Roman trotz einiger Lägen gut gefallen, die Charakteristik der Protagonisten erschien mir manchmal etwas zu flach oder klischeehaft. Wirklich gefallen hat mir die Figur der Agnes, für sie konnte ich echte Sympathie und auch Empathie aufbringen. Lilo ist aus meiner Sicht zu eifrig dargestellt, Monika bleibt recht farblos, Frieda wünscht sich niemand als Schwiegermutter und Frank Steiner möchte man auch nicht unbedingt in der Familie wissen. Bleibt noch Ernst, der an der Tragödie offenbar zerbricht. Über Walter ist am Ende alles zu lesen. Dem greife ich nicht vor.
Das Cover passt gut zu Agnes! Die großzügige, klassische Typografie ist sehr angenehm.
Fazit: Leseempfehlung für alle, die sich für die deutsche Geschichte im Allgemeinen und für Traumabewältigung im Besonderen interessieren. Eine gute Idee, lebensnah umgesetzt. Gute 4 Sterne.
#FragnichtnachAgnes #NetGalleyDE