Besprechung vom 14.11.2020
Drückende Stille zwischen den Generationen
Behutsam, schlicht, genau: Verena Keßler debütiert mit dem Roman "Die Gespenster von Demmin"
Der Satz sitzt: "Es nieselt schon wieder, natürlich, wenn ich die Sonne wäre, würde ich auch woanders scheinen." Alles ist an diesem Satz ablesbar: dass die fünfzehnjährige Larissa, die sich selbst "Larry" nennt, schlagfertig ist und kurzen Prozess macht mit ihrer Umgebung, dass diese Umgebung - die Kleinstadt Demmin in Vorpommern - sie anödet und dass sie dort wenig mehr hält als die Erdanziehungskraft, dass also ihre Lebenslust hier kein Zuhause findet. Als sie sich wenig später mit Timo trifft, der die Schule nach der neunten Klasse abgebrochen hat und jetzt bei Netto Paletten leer räumt, fragt sie ihn wie selbstverständlich: "Willst du denn gar nicht weg von hier?"
Demmin, am Zusammenfluss von Peene, Trebel und Tollense gelegen, hält seine Jugend nicht. "Die Menschen gehen alle weg", erzählte der Filmemacher Hans Jürgen Syberberg, der nur wenige Kilometer von Demmin entfernt in Nossendorf lebt, dieser Zeitung im Frühling (F.A.Z. vom 8. Mai): "Das ist das Ende einer lebenden Kommune. Es bleiben die Alten übrig, die Jungen gehen nach der Schule sofort weg. Das ist kein normaler Zustand."
Larry, die Protagonistin in Verena Keßlers Romandebüt "Die Gespenster von Demmin", will auch weg: Kriegsreporterin - das ist ihr Lebensziel. Dafür trainiert sie Tag für Tag, lässt sich kopfabwärts vom Apfelbaum hängen, taucht ihre Hand im Winter in die fast zugefrorene Peene, immer gegen die Stoppuhr, je länger, desto besser. Kriegsreporterin sein, das hat für sie mit Schmerzunempfindlichkeit zu tun, mit einem gestählten Körper, der Folter und Entbehrung aushalten kann, nicht mit politischer Analyse, geistiger Anstrengung oder Empathie.
Larry kann man nichts vormachen: Sie durchschaut die Lebenslügen ihrer Mutter, einer Krankenschwester, die ständig neue Männer ausprobiert. Aber Larry selbst macht anderen etwas vor: das nette Mädchen nämlich, das auf dem Friedhof Müll sammelt, doch nur dann, wenn sie von den alten Frauen, die zur Grabpflege kommen, gesehen wird, weil sie ihr dann einen Fünfer zustecken. Trotzdem wird einem Larry, die manchmal Züge einer Zynikerin trägt, sympathisch, nicht nur in den zärtlichen Dialogen mit ihrem toten Bruder, der 36 Tage vor ihrer Geburt starb, auch in der Anhänglichkeit an ihren Vater wie an ihre Mutter, schließlich an die Freundin Sarina, die ihr als Kind beigebracht hatte, im Freien zu pinkeln.
Keßler kontrastiert diese pubertäre Behauptung von Lebenswillen mit der Vorbereitung der über achtzigjährigen Frau Dohlberg auf das Altersheim und das Sterben. Larry erzählt selbst in der ersten Person, über Frau Dohlberg lesen wir in der dritten. Die Kontrasterzählungen sind scharf gegeneinander geschnitten. Wenn Keßler einen Demminer Parkplatz mit dem Dänischen Bettenlager, Rossmann und Kik beschreibt, hat man Bilder wie aus einem "Tatort" oder einem "Usedom-Krimi" (gern mit unzugänglichen Problemkindern) vor Augen. Das ist alles mit sicherer Hand, klarem Blick, perfektem Timing, schmucklos, stringent und präzise gemacht.
Wie Keßler sich hineindenkt in die Welt einer Fünfzehnjährigen, das zeugt von Empathie und exakter Beobachtung. Die drückende Einsamkeit der Alten fängt sie ohne Kommentar, ohne sprachliche Gefühlsbefehle ein, und nicht weniger drückend macht sich die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln breit. Da kommen wir auch zu dem Grund, warum die Jungen wegwollen und das Buch "Die Gespenster von Demmin" heißt. Mehrere Sachbücher und der Dokumentarfilm "Über Leben in Demmin" von Martin Farkas haben bereits den Massenselbstmord von mindestens tausend Menschen in der Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs thematisiert, als überwiegend Frauen sich entweder erhängten, die Pulsadern aufschnitten oder gemeinsam mit ihren Kindern in der Peene ertränkten - aus Angst vor Racheakten und Vergewaltigungen durch die einrückende Rote Armee. In knappen Erinnerungsrückblenden fängt Keßler das Kindheitstrauma dieser Tage bei der alten Frau Dohlberg ein.
Durch Schlichtheit und Genauigkeit gelingt Keßler mit diesem Roman-Erstling ein Buch, das schön ist, weil es nicht groß sein will. Das heißt aber auch, dass seine stilistische Perfektion durch Kleinmut erkauft wird: Die Autorin scheut sich davor, in die Debatten der Erinnerungspolitik einzusteigen. Durch die Ich-Perspektive Larrys und die Trauma-Hemmung Frau Dohlbergs schützt sie auch sich selbst vor Reflexionen. Von den "Nazis" und ihrem "Trauermarsch" am 8. Mai grenzt sich Larry durch Desinteresse ab. Deren Motivation und Perspektive interessieren Keßler - anders als den Filmemacher Farkas - nicht. Auch die Frage, ob die Sprachlosigkeit nur mit psychischen Traumata und nicht auch mit politischen Unterlassungen - dem jahrzehntelangen Verhindern, dass die Opfererfahrung der Kinder von 1945 öffentlich Form und Sprache fand - zu tun haben könnte, liegt außerhalb des Horizonts dieses Buches.
Die Hoffnung, die es am Ende aufscheinen lässt, ist die einer ressentimentfreien und empathischen Aneignung von Geschichte, die dazu führen müsste, dass sich Lebensfreude statt der Depression fortpflanzt und dieses Leben in Demmin Geborgenheit findet. Verena Keßler hat diese Aufgabe behutsam formuliert; sie zu lösen wäre zu viel für ein Buch und einen Menschen allein.
JAN BRACHMANN
Verena Keßler:
"Die Gespenster von
Demmin". Roman.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2020. 240 S., geb.
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