"Der Filmregisseur Volker Heise rekonstruiert das Jahr 1945 . . . Eine nie dagewesene Chronik der Schicksalsmonate von Silvester bis Silvester, spannend wie ein Krimi."
Platz 1 Sachbuch-Bestenliste Die Zeit, Deutschlandfunk Kultur und ZDF
1945, ein Jahr zwischen Katastrophe und Neuanfang. Die Deutschen schicken ein letztes Aufgebot an jungen und alten Männern in die Schlacht, die Alliierten rücken näher, Zivilisten sind auf der Flucht oder suchen im Trümmerfeld des Krieges Schutz. Im Mai ist der Krieg zu Ende, die Menschen kriechen aus den Ruinen, vor sich eine ungewisse Zukunft. Der Alltag geht weiter, aber die Welt ist eine andere.
Volker Heise legt eine atemberaubend erzählte Chronik vor, die das ganze Jahr 1945 umspannt, von Silvester bis Silvester. Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, aber auch unveröffentlichtes Archivmaterial, darunter Augenzeugenberichte, erlauben eine einzigartige Perspektive. Stimmen, Beobachtungen und Geschichten werden zu einer großen Erzählung verwoben, die unterschiedlichste Schicksale unmittelbar miteinander verknüpft. Das Porträt eines Jahres, wie wir es noch nicht gesehen haben.
Besprechung vom 04.03.2025
Vergebliche Briefe
Volker Heise montiert eine Chronik von 1945
1913, 1923, 1926, 1977, 1979 - zahlreiche Jahre des vorigen Jahrhunderts haben es schon zu Buchtiteln gebracht. Da liegt es nahe, auch dem Jahr 1945 ein Buch zu widmen. Volker Heise, Autor und Filmemacher, hat eine Chronik eben jenes Jahres zusammengestellt, das der Historiker Hans-Ulrich Wehler einmal als den "Tiefpunkt der neueren deutschen Geschichte" bezeichnete.
In einer Collage aus Tagebüchern, Briefen, Wochenschauberichten und bislang unveröffentlichten Zeitzeugnissen gelingt Heise so ein beeindruckendes Panorama der deutschen "Zusammenbruchsgesellschaft" (Wehler), eine Chronik der Dramen und Tragödien auf der weltpolitischen Bühne, aber auch in der privaten Welt der "kleinen Leute" - etwa im Tagebuch der Berlinerin Sekretärin Brigitte Eicke, die ihre Aufzeichnungen nur führte, um sich im Stenographieren zu üben.
Vor fünf Jahren veröffentliche Heise die Filmdokumentation "Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt", die ausschließlich zeitgenössische Originalaufnahmen verwendete. Aus dem Material, das er und seine Mitarbeiter seinerzeit zusammengetragen haben, entstand das vorliegende Buch. Es hat seinen Schwerpunkt in Berlin, wirft aber auch Blicke ins ländliche Deutschland und an die Peripherie des einstigen Reiches. Darüber hinaus führt Heise seine Leser aber auch nach Amerika, England und Asien, als er Zeitzeugen des beginnenden Atomwaffenzeitalters zu Wort kommen lässt.
Am Anfang der Chronik aber stehen die letzten Schlachten des Dritten Reiches. Das Buch beginnt mit der Reise Hitlers an die Front zur letztlich gescheiterten Ardennenoffensive im Winter 1944/45. Die Schlacht um die Seelower Höhen, die die Eroberung Berlins durch die Rote Armee einleitete, lässt Heise sowohl von deutschen wie sowjetischen Soldaten schildern. Zu Letzteren gehörte auch der später als Filmregisseur bekannt gewordene Konrad Wolf, der als neunzehnjähriger Soldat auf Seiten der Sowjets kämpfte. Heises Zusammenstellung gibt aber auch den Hunderttausenden Zwangsarbeitern in Berlin eine Stimme, die in kleinen Lagern interniert waren und in den letzten Kriegsmonaten Trümmer zu beseitigen und Gräber auszuheben hatten.
"1945" ist vor allem eine Chronik der Not, des Hungers, der Kälte, der Krankheiten, der Flucht und der Heimatlosigkeit nach dem totalen Zusammenbruch, als selbst Särge eine Mangelware waren, die es nur auf Bezugsschein gab. Die siebzehnjährige Eicke berichtet, damals sei in Berlin der makabre Abschiedsgruß "Bleib übrig!" üblich gewesen. Ebenso makaber mutet die generalstabsmäßig organisierte Suche der Roten Armee nach Adolf Hitler beziehungsweise nach dessen Überresten an, die Heise mithilfe der Aufzeichnungen einer an der Operation beteiligten russischen Übersetzerin in seine Chronik einfließen lässt. Großen Raum nimmt die massenhafte sexuelle Gewalt bei Kriegsende ein. Aufgenommen sind zahlreiche Aussagen von Frauen, die von russischen Soldaten vergewaltigt wurden. In der Folge kam es zu ungewollten Schwangerschaften, die nur auf Antrag bei den zuständigen Amtsärzten beendet werden durften. Heise hat diese Anträge im Berliner Landesarchiv gesichtet und einige abgedruckt.
Der Schriftsteller Hans Rauschning hat das Jahr 1945 mit Blick auf die Krematorien der Konzentrationslager und auf die Zerstörungen des alliierten Bombenkrieges einmal doppeldeutig als "Aschejahr" bezeichnet. Heise zitiert ausführlich aus den nie abgeschickten Briefen der versteckt lebenden Jüdin Alice Löwenthal, die sie an ihren Mann und die beiden Kinder in der vergeblichen Hoffnung schrieb, dass diese überlebt hätten. Noch am 27. März 1945 wurden 42 jüdische Menschen aus Berlin nach Theresienstadt deportiert. Nur wenige Wochen später, am 11. Mai, feierte Rabbiner Martin Riesenburger in Weißensee wieder einen öffentlichen Gottesdienst. Zahlreiche jüdische Flüchtlinge aus Polen kamen in den nächsten Monaten nach Berlin, so wie auch ehemalige jüdische Bewohner. Ende Juli berichtete Riesenburger von der ersten jüdischen Eheschließung in der Synagoge in der Rykestraße. Das Paar hatte sich in Auschwitz kennengelernt. RENÉ SCHLOTT
Volker Heise: "1945".
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2024. 464 S., Abb., geb.
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