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Besprechung vom 22.03.2025
Eine gewisse Vorstellung
Von Voltaire zu Coco Chanel, von Reims nach Chartres und von den Troubadouren zur Tour de France: Volker Reinhardt wagt sich an eine umfassende Kulturgeschichte Frankreichs.
Von Lena Bopp
Von Lena Bopp
Volker Reinhardt hat sich zeit seines Historikerlebens mit der Geschichte Italiens befasst. Vor ein paar Jahren erschien unter dem Titel "Die Macht der Schönheit" sein hoch gelobtes, mittlerweile in vierter Auflage vorliegendes Buch über die Kulturgeschichte des bel paese. Immer wieder hat Reinhardt seinen Blick aber auch ins benachbarte Frankreich gelenkt. Unter den gut zwei Dutzend historischen Abhandlungen aus seiner Feder finden sich drei Biographien von Figuren aus der französischen Geschichte - den Marquis de Sade (2014), Voltaire (2022) und Montaigne (2023). Und alle drei tauchen nun wieder auf.
In ungleich knapperer, dafür präzise-pointierter Form sind ihnen als herausragende Personen der französischen Historie einzelne Kapitel in Reinhardts "Esprit und Leidenschaft" betitelter Kulturgeschichte Frankreichs gewidmet. Das mehr als sechshundert Seiten umfassende Werk ist in sechs Teile (oder Epochen) gegliedert, die ihrerseits in zwischen acht und siebzehn Kapitel unterteilt sind. Nicht alle, aber die meisten von ihnen untersuchen, ausgehend von einzelnen Figuren, wie diese (ebenso wie Mit- oder Gegenspieler) über ihre Zeiten hinaus prägend wirkten.
Das beginnt mit dem um 1100 entstandenen Rolandslied und dem Ritter und Troubadour Bertran de Born, geht über den "verfluchten Dichter" François Villon, den "methodischen Denker" René Descartes, den Enzyklopädisten Denis Diderot und den Nationalhistoriker Jules Michelet bis hinein ins zwanzigste Jahrhundert, wo sich Reinhardts Kulturbegriff merklich weitet und auch Felder wie die Küche (Auguste Escoffier), die Mode (Coco Chanel) und den Sport (Tour de France) umfasst.
Er verstehe Kultur, so schreibt Reinhardt, als "Gesamtheit und Summe von ästhetischen Konzepten, Geschmacksrichtungen und Kunststilen, Phantasievorstellungen, Utopien, Bewusstseinshorizonten, Wertesystemen, Zeitkritik und Zukunftsentwürfen und als Umsetzung dieser 'Kopfwelten', Bewusstseinshorizonte und Mentalitäten in kollektives Verhalten". Das mag ein wenig umständlicher klingen als nötig. Aber diese weite Definition hat den Vorteil, dass sich nicht nur streng genommen Kulturfremdes, sondern auch Hoch- und Volkskultur, und zwar sowohl dies- als auch jenseits königlicher Höfe und Hauptstädte, subsumieren lässt. Und Reinhardt macht von den mannigfachen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, regen Gebrauch.
Zugute kommt ihm dabei, dass er ein überragender Stilist ist. Der etwas kleinteilige Aufbau seines Buchs prädestiniert es dazu, ein beliebtes Nachschlagewerk zu werden. Der Zugang zu beinahe tausend Jahren Geschichte wird aber auch dadurch erleichtert, dass Reinhardt seinen Stoff auf elegante, nie effekthascherische Art zu fassen weiß - in so gut wie jedem Kapitel nach einem stets ähnlichen Muster: Einer kurzen Einleitung folgen biographische Elemente, die Exegese meist eines (Haupt-)Werks, dessen Rezeption zu Lebzeiten und Wirkgeschichte in der Nachwelt. Wobei all diese Überlegungen stets eingebettet sind in das, was Franzosen "histoire événementielle" nennen, in die Ereignisgeschichte.
Reinhardt begreift kulturelle Produktionen als Spiegel historischer Entwicklungen und analysiert sie beispielhaft: der höfische Roman "Eric et Enide" von Chrétien de Troyes wird so etwa zum Ausdruck einer aufsteigenden, zentralen Monarchie, wie sie sich im zwölften Jahrhundert in Frankreich anbahnte - Gegenbewegungen inklusive. Dass etwa ausgerechnet einem Ort, fast möchte man sagen: Kaff, wie dem von weiten, flachen Feldern umgebenen Chartres (ein weiteres Beispiel findet sich in Reims) eine so imposante gotische Kathedrale geschenkt wurde wie jene, die in vergleichsweise kurzer Bauzeit im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts entstand, mag bis heute verwundern. Es ist aber gut nachvollziehbar, wenn man die Entstehung dieses sakralen Baus als Willensbekundung einer "klerikalen Provinz-Oligarchie" begreift, die der aufstrebenden Monarchie das eigene Geltungsbewusstsein entgegenhielt. Und wer nun in dieser Art von geweihtem Wettrüsten frühe Anklänge eines für Frankreich spätestens seit 1789 charakteristischen Spannungsverhältnisses zwischen Peripherie und Zentrum vernimmt, der liegt vielleicht nicht ganz falsch.
Zu Beginn von Reinhardts Zeitreise manifestiert sich Kultur vor allem in Gestalt von Architektur und, weit mehr noch, von Literatur. Das hat nicht nur etwas mit der Quellenlage zu tun. Der Autor schreibt der französischen Kultur in einer einleitend und bewusst gewählten Zuspitzung zu, in höherem Maße als etwa "die bildzentrierte Kultur Italiens" und "die musiklastige Kultur Deutschlands" auf Worte, Ideen, Ideologien, Theorien, kurzum auf den schwer übersetzbaren esprit gegründet zu sein.
Die Annäherung an Kultur bedeutet so vor allem Textanalyse, die bei Reinhardt ebenso scharfsinnig wie kurzweilig daherkommt. Sie beginnt mit dem "Rosenroman" (um 1280) des Jean de Meung, der die um Rittertum, Religion und höfisches Leben kreisenden Werte seiner Zeit in spotttriefenden Versen demaskierte. Auf diese Weise habe er eine "Gegenkultur der Alles-Infragestellung" begründet, die Reinhardt zwei Jahrhunderte später zu Recht von François Villon und François Rabelais fortgeführt sieht. Auch Voltaire nennt Reinhardt einen "Alles-Infragesteller" und zieht auf diese Weise eine von mehreren, durch die Jahrhunderte sich entwickelnden "Verbindungslinien", denen ein Hauptaugenmerk seiner Kulturgeschichte gilt. Er wolle "repräsentative Stationen" der Geschichte so darstellen, dass vertiefte Einsichten in Ideen, Trends und Stilentwicklungen geboten würden. Diese "Brennpunkte" möchte er zugleich so miteinander verknüpfen, dass Leitmotive sichtbar werden.
So rücken beispielsweise die berühmten Briefe, in denen eine Madame de Sévigné oft in virtuos zur Schau gestelltem Plauderton über das Leben am Hofe Ludwigs XIV. berichtete, an die Seite der ein gutes Jahrhundert früher erschienenen "Essais" von Michel de Montaigne. Und dessen Lob des gepflegten Streitgesprächs und seine Anregung zur Selbstreflexion finden einen geistigen Vorläufer in den "Mémoires" des Diplomaten und Schriftstellers Philippe de Commynes, der mit seiner Mischung aus Historiographie und Erforschung des Menschen eine erste Bresche schlug.
Eine andere Verbindung zieht Reinhardt zwischen mehreren femmes de lettres, die sich durch die Jahrhunderte miteinander zu unterhalten scheinen: Mit Christine de Pizan, die in ihrem erst jüngst in deutscher Übersetzung erschienenen Werk "Stadt der Frauen", schon um 1404/05 eine utopische, von Frauen regierte Gegenwelt zu ihrer stark patriarchalisch geprägten Lebenswirklichkeit entwarf, wurde eine Traditionslinie begründet, die sich nicht nur mit Marie de Gournay und Madame de Lafayette fortsetzte. Sondern auch mit Olympe de Gouges, die inmitten der Umwälzungen der Französischen Revolution konkrete Forderungen nach Gleichberechtigung von Frauen in ihrer berühmt gewordenen "Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne" (1791) erhob - und die dafür auf der Guillotine landete. Ihr Manifest geriet daraufhin lange in Vergessenheit. Im zwanzigsten Jahrhundert aber nahm Simone de Beauvoir den Faden in "Das andere Geschlecht" wieder auf.
Eine weitere Traditionslinie, die Auswirkungen bis in die Gegenwart zeitigt, beschreibt Reinhardt ausgehend von seinem Kapitel über Émile Zolas im Jahr 1898 erschienenen Brandbrief "J'accuse", mit dem dieser die Dreyfus-Affäre in Bewegung brachte und das "Rollenverständnis des kritischen Intellektuellen als Vierte Macht" entscheidend prägte. Dass mit einem durchaus vergleichbaren Selbstverständnis vor Zola bereits andere ausgestattet waren, allen voran Voltaire, liegt auf der Hand. Dass Zola das Profil des engagierten Intellektuellen zwar geschärft, mit seiner Parteinahme aber auch zur Spaltung dieses Milieus in ein links-progressives und ein katholisch-konservatives Lager beigetragen hat, ist ebenfalls bekannt. Gerade vor dem Hintergrund der bis in die Gegenwart reichenden Spuren dieser Polarisierung, die aus deutscher Sicht doch immer wieder extrem und unheilvoll anmutet, liest man diese Ausführungen hingegen abermals mit Gewinn.
Mit dem literarischen Schaffen Émile Zolas hätten sich auch die Schicksalsjahre 1870/71 erschließen lassen. Die Novellen von Guy de Maupassant, von denen in anderem Zusammenhang kurz die Rede ist, wären ebenfalls geeignet gewesen, ein Licht auf die für Frankreich so demütigende Niederlage im Krieg gegen das preußische Deutschland zu werfen. Aber Reinhardt wählt hier den Zugang über die Musik. Er zitiert vor allem Claude Debussy, der jener von deutschen Komponisten beanspruchten Führungsrolle in der Musik etwa die Wiederentdeckung eines Jean-Philippe Rameau entgegensetzte. Guillaume Dufay, Hector Berlioz, Giacomo Meyerbeer und Maurice Ravel sind weitere Musiker, denen eigene Kapitel zugedacht werden. Aus dem Bereich der Kunst sind derweil mit dem Versailler Hofmaler Charles Le Brun, Jean-Antoine Watteau, Jacques-Louis David, Théodore Géricault, mit diversen Impressionisten sowie mit Henri de Toulouse-Lautrec einige der wichtigen bildenden Künstler Frankreichs vertreten. Ob es tatsächlich die wichtigsten sind, ist Ansichtssache und wird es wohl auch bleiben.
Denn natürlich tun sich in der Art von Kulturgeschichte, wie Volker Reinhardt sie geschrieben hat, immer Lücken auf. Ohne Verzicht ist ein Fokus auf das Wesentliche nicht zu haben. So gibt es etliche Figuren, Strömungen und Stile, die man vermissen darf - insbesondere im zwanzigsten Jahrhundert, das aus der Literaturgeschichte einzig Marcel Proust mit einem eigenen Kapitel beehrt und einen naturgemäß eher philosophisch interessierten Blick auf die Existenzialisten wirft. Auf alle anderen literarischen Größen seit 1900, auf André Gide und Jean Genet, um nur diese zwei zu nennen, verzichtet Reinhardt zugunsten etwa des Historikers und Widerstandskämpfers Marc Bloch, der den von ihm geforderten Platz im Panthéon mittlerweile ja auch bekommen hat. Außerdem widmet er sich Frantz Fanon und dessen Kritik des Kolonialismus. Er wirft einen kursorischen Blick auf das französische Kino zwischen Nouvelle Vague und Nouveau Cinéma (Letzteres im Doppelpass mit dem Nouveau Roman). Und er liest ein bisschen in den in Frankreich so beliebten Comics um Asterix und Co.
All diese Kapitel zum Ende des Buches hin wirken etwas atemlos und, aufgrund der doch gewaltigen Sujets, die sie jeweils behandeln, kürzer, als ihnen vielleicht guttut. Aber dieser Eindruck lässt sich auch als Anregung für den Autor begreifen, sich der ein oder anderen Figur in einem eigenen Werk vertieft zu nähern. Das Einzige, was dann tatsächlich zu monieren wäre, betrifft das letzte Kapitel, das die Grands Projets genannten Kulturbauten französischer Präsidenten unter die Lupe nimmt, allen voran Mitterrands. Der aber wird immer noch mit zwei r geschrieben, nicht mit einem. Aber wenn es sonst nichts ist . . . Und sonst ist es wirklich nichts.
Volker Reinhardt: "Esprit und Leidenschaft". Kulturgeschichte Frankreichs.
C. H. Beck Verlag,
München 2025.
656 S., Abb., geb.
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